Es hat Jahrzehnte gedauert, bis sich endlich gestern vormittag die bewegende und spannende Geschichte eines Bauwerkes enthüllte, welches mich seit meinen Kindertagen in seinen Bann zieht…
Nach meinem Post “Haus am Berg”, veröffentlicht am fünften Januar, ließen mir die Fragen und die Rätsel um das Schicksal meiner Prachtvilla keine Ruhe mehr. Kurzerhand sandte ich eine E-mail an das Berchtesgadener Rathaus, in welcher ich vorsichtig und höflich um Informationen ersuchte. Mehr als zwei Wochen verstrichen ohne jegliche Antwort. Ich fand mich schulterzuckend darein. Ist ja jetzt auch nicht so wichtig. Private Belange erforderten meine vollste Aufmerksamkeit. Dann, kurz vor dem Wochenende, erhielt ich eine knappe Nachricht, daß mir ein Brief mit Unterlagen über die “Villa Marienfels” zugestellt werden würde.
Gestern suchte mich ein Migräneanfall heim, doch selbst die hämmernden, rechtsseitigen Kopfschmerzen, das Schwindelgefühl und die latente Übelkeit konnten mich nicht daran hindern, einen ersten Blick auf die vom Archivar des Rathauses sorgfältig fotokopierten Seiten zu werfen. Und zu staunen. Die Geschichte meines Traumhauses ist spannender, als ich mir es selbst in meinen kühnen Phantasien ausgemalt hatte…
… Ende der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts verliebte sich ein gestandener und sehr erfolgreicher preussischer Fabrikant namens Richard Pintsch in das Berchtesgadener Land. Besonders war er, Ingeneur, Unternehmer und Pionier der Gasbeleuchtung in Deutschland, von der Reichenbach’schen Soleleitung angetan, welche unweit des weitläufigen, kurzerhand erworbenen Grundstückes vom Salzbergwerk Berchtesgaden bis zur ungefähr zwanzig Kilometer entfernten Saline Bad Reichenhall verlief, entlang der Flanke eines kleinen Berges, des Kälbersteins. Der Bauplatz der geplanten Villa an einem ausgesetzten und vorgelagerten, sehr schroffen Steilhang, unweit eines Abschnittes dieser Soleleitung, galt als ausgesprochen schwierig, mit ungünstigsten Bedingungen. Entworfen wurde das höchst ungewöhnliche Gebäude vom Berliner Architekturbüro Cremer und Wolffenstein, die seinerseits unter vielen anderem am Bau der ersten Berliner U-Bahn-Linie beteiligt waren. Die Einzelteile des atemberaubend über dem Stadtkern förmlich schwebenden Hauses im Neurenaissance-Stil wurden 1892 in Berlin-Fürstenwalde gefertigt, dort probeweise zusammen gesetzt und dann mit der Eisenbahn nach Berchtesgaden transportiert. Die Montage auf einer weitgehend künstlich erstellten Hangterrasse nahm grade mal vier Monate in Anspruch. “Villa Marienfels” gilt als das erste Fertighaus der Welt.
Sie wurde mit dem größten technischen Komfort ausgestattet, dazu gehörte eine eigene Wasserversorgung, dreizehn Jahre bevor in Berchtesgaden ein zentrales Leitungsnetz installiert wurde, sie war auch an das Stromnetz der Berchtesgadener Elektrizitätsversorgungs-Gesellschaft angeschlossen, der ersten in ganz Bayern, eine Dampfheizung wurde in sämtlichen Räumen konstruiert, eine Personenrufanlage mit Gegensprechfunktion und – die Attraktion schlechthin! – ein elektrischer Fahrstuhl, mithilfe dessen der herzkranke Herr Pintsch ohne Mühen die fünfzig Höhenmeter bis hinunter zum Markt Berchtesgaden zurück legen konnte. Die Gestaltung der Inneneinrichtung oblag völlig der Frau des Industriellen, Maria, geborene Goldbeck. Exquisiter Jugendstil, eine gußeiserne Treppe, welche die drei Stockwerke miteinander verbindet, Groteskenmalereien, kostbare Holzdecken mit Schnitzereien und Brandmalereien, bemalte Bleiglasfenster verliehen – und verleihen auch heute noch – den Räumen gediegenen Luxus. Die Planung und der Ausbau des Gartens nahmen fünfundzwanzig Jahre in Anspruch.
In jenen Tagen zählten die Mitglieder der Familie Pintsch, die regelmäßig ihre Sommerfrische in der “Villa Marienfels” verbrachten, zu den angesehensten Bürgern Berchtesgadens, das außergewöhnliche Bauwerk wurde bewundert und bestaunt, galt als Sehenswürdigkeit. Pintsch und weitere Mitglieder einer erlesenen Schar weitgereister, wohlhabender, kultivierter Fremde “aus der Stadt” waren es, die den mühsam schuftenden Bergbauern ein erstes Zubrot ermöglichten, als Zimmervermieter, Jagdgehilfen, Bergführer, als Hausangestellte. Der kühne Bauherr und Erfinder – eine erkleckliche Anzahl Pintsch’er Patente kann man im Deutschen Museum bewundern – wurde von den Berchtesgadener Stadtvätern 1906 aufgrund seiner Wohltätigkeit und weil er viel zur Verschönerung des Ortes beigetragen habe, zum Ehrenbürger ernannt. Die Berliner Fabrikantenfamilie hing sehr an ihrem Berchtesgadener Domizil, dessen Haupteigentümerin Maria Pintsch war. Nach ihrem Tode im Jahre 1922 wurde der gesamte Besitz, zu dem neben einem Wohnhaus für das Personal noch eine kleinere Gästevilla und ein weitläufiger Park mit Springbrunnen, seltenen mediterranen Gewächsen und ausgewählten Bäumen zählte, an diverse Interessenten verkauft…
… Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts drohte meinem Traumhaus der Verfall. Der kühne, italienisch angehauchte Baustil störe mittlerweile das Gesamtbild einer von alpenländischer Architektur und Kultur geprägten Kleinstadt, hieß es. – Dabei braucht man sich lediglich einmal den plattgedrückten, unförmigen Koloß von Kurhaus anzusehen, der wie ein zu Beton gewordener Albtraum inmitten des Berchtesgadener Zentrums hockt, um angesichts einer dergestalten Aussage in Hohngelächter auszubrechen. – Die vom heutigen Besitzer geplante Renovierung schien an der Sturheit und dem Unverständnis einiger Nachbarn zu scheitern – und an einem Felsen (Stein des Anstosses), welcher einer Verbreiterung der nötigen Baustellenzufahrt im Wege stand. Der Villen-Inhaber mußte einen regelrechten Behördenmarathon auf sich nehmen, vielfach erntete er lediglich ein desinteressiertes Achselzucken oder den Kommentar: “Dieses Anwesen passt einfach nicht in die Landschaft, das kann ruhig zusammen brechen.” Zum Glück überwand er letztendlich alle Widerstände. Die “Villa Marienfels” erstrahlt seit einigen Jahren in neuem Glanz. Bei der Instandsetzung hatte sich der Hausherr gewissenhaft an die Pintsch’en Originalpläne gehalten.
Die “Villa Marienfels” wird stets einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen haben. Und ich freue mich schon jetzt so sehr darauf, sie in ein paar Wochen, wenn ich meinen Bruder und seine Familie kurz besuchen werde, wieder zu sehen. Aber zuvor muß ich jetzt unbedingt Lotto spielen. 28 Millionen sind im Jackpot – und damit vielleicht auch die Erfüllung meines Traumes vom Haus am Berg…
