… Nach dem Absingen von Weihnachtsliedern durch eine Schar als Engel verkleideten Grundschulkinder, einer kleinen Geschenketombola, und dem Sturm aufs Kuchen- und Plätzchen-Bufett kehrte unter den etwa zwanzig teilweise hoch betagten Gästen im Pfarrhaus Ruhe ein. Gar manchem wurden dank des zur Begrüßung verteilten Gläschens Prosecco und dem Genuss des von der Haushälterin nach ihrem streng gehüteten Geheimrezept gebrauten Punsches die Augen schwer.
Die Tür zum Vorraum ging auf, und herein trat in Begleitung des jungenhaften Pfarrers, dessen Vollmondgesicht irgendwie nicht so recht zu seiner mageren Statur passen wollte, die ehemalige Leiterin der Dorfbücherei, Frau Perl. Flink wie ein Wiesel sprang Frau Kern auf, und bot ihren Platz an: „Was für eine schöne Überraschung! Wir freuen uns alle sehr, Sie zu sehen. Setzen Sie sich doch, ich hole mir einen Stuhl aus dem Büro. Bedienen Sie sich, es ist noch genügend Kuchen und Weihnachtsgebäck, Kaffee, Tee und Punsch da!“
Frau Perl schüttelte den grauhaarigen Kopf. „Nein, danke. Ich bin nicht zum Feiern gekommen.“ Sie stockte. Der Pfarrer reichte ihr ein Glas Wasser und legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. Frau Perl trank in großen Schlucken, sie trat einige Schritte nach vorne an die Stirnseite der mit Tannengrün, bunten Sternchen und Kerzen geschmückten Tafel. Ihre Schultern strafften sich, und all ihre Nervosität und Unsicherheit fielen von ihr ab.
„Ich bin gekommen, um einige Dinge richtig zu stellen. Und um mich zu verabschieden.“
Mit einem Schlag war die traute Seniorenrunde hellwach.
„Man hat mir zugetragen, was hinter meinem Rücken seit einer Weile über mich geredet wird. Es heißt, ich sei eine schwere Alkoholikerin, seit dem Tod meines Mannes sei ich dem Suff ergeben, und würde pro Tag flaschenweise Wein und Schnaps in mich hinein schütten. Das entspricht nicht den Tatsachen. Ich habe noch nie Alkohol getrunken – ich werde davon sterbenskrank… Es heißt auch, dass mir das heimliche Saufen zuhause nicht ausreichen würde, und dass ich mich im Café Bootshaus bei den Asozialen herum treiben würde. – Nach dem Tod meines Mannes und meiner Pensionierung habe ich mich nach einer sinnvollen Aufgabe gesehnt. Ich bin mit den Wirtsleuten vom Bootshaus seit meinen Kindertagen befreundet. Die Beiden veranstalten im Wirtsgarten zweimal pro Woche eine Art Tafel mit Lebensmittelspenden und Hygieneartikeln, damit die oft ohne eigene Schuld arbeitslos gewordenen, armen Dörfler und die Alten, die von ihren mageren Renten nicht leben können, und die Flüchtlinge, die häufig völlig traumatisiert nur mit dem nackten Leben davon gekommen sind, nicht immer mit dem Bus in die Kreisstadt fahren müssen. Sie wissen bestimmt, dass Benni und Ossi, die Zwillinge vom Boothaus, körperlich schwer behindert und halt auch nicht mehr die Jüngsten sind. Die Arbeit mit dem Organisieren der Tafel, dem Betreuen der Bedürftigen und dem Führen des Cafés ist ihnen immer mehr über den Kopf gewachsen. So habe ich ihnen nach und nach einige Pflichten abgenommen. Dazu gehört auch das Entsorgen der leeren Flaschen in den Altglascontainer…“
Sie machte eine kurze Pause. Im Pfarrsaal war es mittlerweile mucksmäuschenstill geworden. Man spielte angelegentlich mit Keksbröseln und Tannennadeln auf den einstmals blütenweißen, nun von Wachs- und Punschflecken verunzierten Tischdecken, um Frau Perls Blicken auszuweichen.
„Ich bin hier geboren worden und aufgewachsen. Hier habe ich geheiratet, eine gute Ehe geführt, habe meinen Sohn aufgezogen und mich all die Jahre glücklich und zufrieden gefühlt. Doch ich möchte auf gar keinem Fall länger in Heubach bleiben. Ich könnte es nicht ertragen, Tag für Tag all jenen zu begegnen, die diese entsetzlichen Gerüchte über mich in die Welt gesetzt und fleißig verbreitet haben. Ich habe mein Haus verkauft, und werde noch vor Weihnachten zu meinem Sohn ziehen.“
Frau Perls folgende Worte waren anscheinend an sämtliche Anwesenden gerichtet, doch während sie sprach, fixierte sie Frau Stegert, auf deren fahle Wangen sich zwei tiefrote Flecken gebildet hatten, und deren glasige Blicke unstet hin und her huschten.
„Mein Sohn hat mir geraten, Anzeige wegen Verleumdung und Rufschädigung zu erstatten. Nach langem Überlegen habe ich mich allerdings dazu durchgerungen, auf dergleichen zu verzichten. – Wissen Sie, ich hasse Sie nicht, ich kann Sie nicht hassen. Ich fühle große Abscheu – aber eigentlich tun Sie mir aus tiefster Seele leid. Was müssen Sie für ein erbärmliches Leben führen, wie dunkel und zerrissen muss es in Ihren Herzen und Ihren Seelen aussehen, dass Sie es nötig haben, solche Lügen über Menschen, die Ihnen noch nie ein Leid zugefügt haben, zu erfinden, und ohne jegliches Hinterfragen diese böswilligen Unterstellungen durch‘s ganze Dorf zu tragen. – Nun möchte ich Ihnen eine schöne Weihnachtszeit wünschen – und mir wünsche ich, dass ich keinen von Ihnen jemals wiedersehen muss.“
Frau Perl wandte sich um, nickte dem Pfarrer kurz zu, und verließ festen und schnellen Schrittes den kleinen Saal…
Fortsetzung folgt














