… Eine nicht sehr vorweihnachtliche Geschichte in mehreren Teilen…
Frau Stegert lebte recht komfortabel doch sehr allein in einem kleinen, schmucken Häuschen am südlichen Dorfrand von Heubach, einem Tausend-Seelen-Nest in den oberbayerischen Bergen. Ihr Mann, der bis zu seiner Pensionierung Leiter der örtlichen Sparkassen-Filiale gewesen war, hatte vor gut fünf Jahren nach einem heftigen Schlaganfall das Zeitliche gesegnet. Zu ihren beiden Töchtern und deren Familien, die in der etwa zwanzig Kilometer entfernten Kreisstadt wohnten, hatte sie dank ihres sehr ambivalenten Verhältnisses zur Wahrheit und der unguten Neigung, mittels böser, zumeist selbst erfundener Gerüchte Unfrieden zu stiften, kaum noch Kontakte.
Außer dem Lesen von Magazinen der sogenannten Regenbogenpresse, dem Verfolgen von Klatschsendungen im TV sowie dem eifrigen Kolportieren von gehässigen Tratschereien im Supermärktchen des Ortes, die sehr oft ihren Ursprung im wöchentlichen Seniorentreff im spätbarocken Pfarrhaus der katholischen Kirche hatten, pflegte Frau Stegert kaum Hobbies. Zum Handarbeiten fehlte ihr die Konzentration, und mit der Lektüre von Büchern war sie ihr Lebtag lang, im Gegensatz zu ihren Töchtern, auf Kriegsfuß gestanden.
Gar manchmal wäre ihr also die Zeit in ihrem kleinen, schmucken Häuschen schon arg lang geworden – wenn es da nicht ihren liebsten Zeitvertreib gegeben hätte: Etwa hundert Meter entfernt befanden sich in einer kleinen und von ihrem Anwesen aus leicht einsehbaren Senke die Glas-, Altpapier-, Kunststoff- und Altkleider-Container Heubachs. Mit einem goldgefassten, elfenbeinernen Opernglas bewaffnet, einem Erbstück ihrer Schwiegermutter, verbrachte Frau Stegert viele erbauliche Stunden an ihrem großen Wohnzimmerfenster, bis ins letzte Detail Tag um Tag registrierend, welcher Nachbar was und wann zu entsorgen pflegte, und sich selbstredend geflissentlich Gedanken darüber zu machen. Manchmal begab sie sich nach Einbruch der Dunkelheit mit einem Alibi-Müllbeutelchen, einem Klappschemelchen und einer Taschenlampe versehen zu den Containern, um sich zum Beispiel zu vergewissern, ob der Bauer Lenz vom Alpbichl tatsächlich einen ganzen Schwung an Jeans, die seine Frau erst letzten Sommer in der Kreisstadt erstanden hatte, dem Altkleiderbehälter einverleibt hatte. Und ob der Obst- und Gemüsehändler Heinrich wieder einmal eine ganze Kiste Äpfel in den Biomüll entsorgt hatte, nur weil eine Handvoll davon einige Druckstellen aufgewiesen hatte.
Seit einer geraumen Weile grübelte sie über das Verhalten von Frau Perl, der ehemaligen Leiterin der Dorfbücherei. Deren Mann war vor knapp einem halben Jahr nach langer und schwerer Krankheit entschlafen, eine Gnade sei das für die arme Frau gewesen, darin waren sich alle „Damen“ der gemütlichen wöchentlichen Runde des Seniorentreffs bei Kaffee und selbstgebackener Linzer Torte einig gewesen.
„Jetzt kann‘s endlich wieder anfangen zu leben, die Arme.“, hatte Frau Kneitz, die Haushälterin des Pfarrers, mitfühlend geseufzt, und die Anwesenden hatten ihr eifrig zugestimmt. Selbstredend hatte man Frau Perl nach dem Verstreichen einer mehrwöchigen „Trauerfrist“ immer wieder zu den Veranstaltungen des Seniorentreffs eingeladen, doch nie eine Antwort erhalten, was Frau Kneitz, Frau Stegert und die anderen Teilnehmerinnen durchaus ein wenig verärgerte.
Das kam Frau Stegert in den Sinn, als sie wieder einmal in ihrem höchst bequemen Wohnzimmersessel thronend das edle Opernglas ansetzte und Richtung Müllcontainer spähte. Eben war Frau Perl mit ihrem großen dunkelblauen Kombi heran gefahren, sie öffnete den Laderaum und hievte mehrere Holzkisten heraus, die randvoll mit Wein-, Sekt- und Spirituosenflaschen gefüllt waren.
„Koa Wunda, dass die sich nia bei uns im Seniorentreff blicken lässt! Des is a heimliche Säuferin! Und was für oane, die muaß ja mindestens zwoa Flaschn Wein und a Flaschn Schnaps am Tag saufn!“, grummelte Frau Stegert. Voller Vorfreude und Eifer fieberte sie dem nächsten Tag entgegen, da würde sie all ihren Bekannten im kleinen Supermärktchen ihre Erkenntnis mitteilen. Und genießen, dass sie endlich wieder einmal im Mittelpunkt des dörflichen Interesses stand. Denn es mangelte ihrer Meinung nach schon sehr seit dem Tode ihres gutmütigen und stets freundlichen Mannes an der gebührenden respektvollen und bewundernden, beständigen Aufmerksamkeit ihr gegenüber…
… Wird fortgesetzt…
