Er kommt zumeist Nachts. Wenn ich vom Tagwerk ermattet tief und fest schlafend bin. Dann stiehlt er sich in meinen Schädel. Er setzt sich hinter und zwischen den Augen fest, in der Regel auf der rechten Seite.
Ich erwache im Morgengrauen, abrupt, als hätte mir jemand einen Schlag versetzt. Da hat der Dämon mich bereits fest in seinen Klauen. Sein Griff tastet sich den Hinterkopf entlang, bis hinab in den Nacken, noch weiter durch das Rückgrat, bis in den Magen. Mir wird übel. Ich kämpfe mich aus dem Bett, ziehe die Nachttischschublade auf, wühle wild suchend darin herum. Nichts da. Keine Zäpfchen da! Keine Waffe, um den Dämon in seine Schranken zu weisen, zurück zu drängen, seine grausamen Angriffe zumindest abzumildern.
Gerade noch rechtzeitig erreiche ich das Bad, die WC-Schüssel. Krampfartiges, lang andauerndes Übergeben – das erstemal. Ich richte mich schaudernd auf und stiere in den Spiegel. Erkenne das Schemen eines eingefallenen, fahlen Totenschädels mit gepeinigt glühenden Augen. Das bin nicht ich! Ich – muß – in – die – Apotheke! Ich – brauche – dringend – Hilfe! Eine Medizin! Hilfe!!! Jede Bewegung ist eine einzige Qual, das kalte Wasser, mit beiden Händen übers Gesicht geschöpft, bietet einige Sekunden Linderung. Das Anziehen wird zum hilflosen Tanz, weil mir die Koordination meiner Gliedmaßen völlig abhanden gekommen zu sein scheint.
Ich stehe auf der Straße, taste mich mit weichen Knien bis zur nächsten Ecke. Ich hebe den Kopf, versuche, aus den zu schmalen Schlitzen zusammen gekniffenen Augen die Apotheke schräg gegenüber auszumachen. Vielleicht fünfzig Meter Entfernung. Normalerweise ein „Katzensprung“, wird diese Distanz für mich an diesem Tage zur alptraumhaften Reise. Zum Glück herrscht nicht viel Verkehr.
Ich stehe am Tresen und verlange nach diesem viel gepriesenen neuen Migränemittel. Die Apothekerin: „Haben Sie Migräne?“ Ich bejahe, indem ich mit zusammen gebissenen Zähnen nicke. Sieht man mir das denn nicht an? Sie hebt an und hält mir einen ausgiebigen, sehr detaillierten Vortrag über die Vorteile und Tücken der beiden klitzekleinen, halbmondförmigen, hellblauen Tabletten. Gereizt vom unaufhörlichen Redeschwall verbeisst sich der finstere, wütende Dämon noch mehr in meinen Schädel. – Bitte, bitte, bitte! Gib mir doch jetzt endlich diese Tabletten! Ich brauche Hilfe!!! – Welches Medikament ich denn normalerweise gegen meine Migräne verwenden würde? – Ja, nimmt denn das immer noch kein Ende??? Hilfe!!! – Immi*gran, die Zäpfchen. – Aha. Warum ich dann heute ausgerechnet diese Arznei kaufen wolle? – Weil ihr Immi*gran nicht auf Lager habt!!! Weil das bestellt werden muß!!! Weil man fünf Stunden und länger darauf warten muß!!!, will ich schreien, brüllen, toben. Und ich jetzt, jetzt, jetzt Hilfe brauche!!! Doch ich zwinge mich dazu, ruhig auf die mir in dieser Situation völlig unsinnig erscheinenden Fragen zu antworten. Endlich schiebt die weiß bekittelte Frau das kleine Päckchen über den Tresen…
Wieder auf dem Gehsteig. Da drüben ist mein Wohnhaus, weit, so unendlich weit entfernt. Los jetzt, komm, das geht schon, Schrittchen für Schrittchen, noch eines, noch eines… Gib acht, nun bist du auf der Straße. Keine Trambahn, kein Auto, kein Radfahrer in Sicht. Ein dunkler Schatten kommt mir entgegen und grüßt mich. Der Stimme nach muß das der Gemüsehändler von nebenan sein. Die Haustüre, endlich, der Lift, endlich! In der Aufzugskabine kündigt sich vehement das nächste Übergeben an. Mit verzweifelter Kraft dränge ich das krampfhafte Würgen zurück, stürze förmlich in meine Wohnung, ins Badezimmer.
Ich nehme den Putzeimer mit ins Schlafzimmer. Ich kenne diesen furchtbaren Dämon seit Jahrzehnten und weiß, welche Vorkehrungen ich nunmehr zu treffen habe. Mit ein paar Schlucken Wasser spüle ich vorsichtig die Tablette herunter. Wenn ich ganz großes Glück habe, bleibt sie so lange im Magen, bis sich der Wirkstoff entfalten kann. Wenn ich ganz großes Glück habe… Ich lege mich auf den Rücken, schirme meine Augen vor der Tageshelligkeit ab, versuche, jede Bewegung zu vermeiden. Der Dämon wühlt in meinem Schädel, es fühlt sich an, als wolle er mit glühenden Zangen mein Gehirn zerfasern, die Augen aus ihren Höhlen reissen. Ein Pop-Klassiker, irgendwann, irgendwo einmal im Vorübergehen gehört, setzt sich in einer Endlos-Schleife in meinen matten, trüben Gedanken fest. Auch dies gehört zum Repertoire des Dämons, er unterlegt seine unmenschlichen Qualen mit Musik, mit ein und derselben Liedstelle, mit ein und derselben Handvoll Noten, wieder, und wieder, und immer wieder. Mich friert, mir ist so sehr kalt, ich zittere am ganzen Körper. Nur wenige Minuten später bricht der Schweiß aus allen Poren. Mir ist so sehr heiß, ich habe das Gefühl, zu glühen, in Hitze zu vergehen. Muskeln an meinen Armen und Beinen beginnen unkontrolliert zu zucken. Und mir wird übel, erneut so sehr übel, ich beuge mich über den Eimer. Das Glück war mir nicht hold, in schmerzhaften Windungen entledigt sich der Magen der aufgelösten Tablette…
Zwei Stunden und noch dreimal Erbrechen später übermannt bleierner Schlaf meinen geschundenen Körper. Die Erlösung. Ich komme in der Abenddämmerung wieder zu mir. In meinem Rumpf scheint jeder Muskel, jede Sehne gezerrt zu sein, jede Bewegung schmerzt. Aber der Kopf ist frei. Müde, aber frei. Der Dämon hat von mir abgelassen. Wieder einmal habe ich seine Folter, seine Pein überlebt. Ich zwinge mich dazu, eine Schale Haferschleimsuppe zu essen und eine Flasche Wasser zu trinken. Jeglicher Appetit, jegliches Geschmacksempfinden sind abhanden gekommen. Das wird noch einige Tage andauern, bis meine Innereien sich von den wüsten Attacken erholt haben. Ich versuche, ein wenig fern zu sehen, doch meine Augen, mein Gehirn weigern sich, den Schwall bunt fliessender Bilder aufzunehmen. Ich nehme die zweite der kostbaren, kleinen, blauen Tabletten und begebe mich wieder ins Bett. Schlafen, ich will nur schlafen…
Früh am nächsten Morgen schlage ich meine Augen auf. Und tue einen tiefen, sehr, sehr tiefen Atemzug. ICH LEBE! HERRLICH! ICH LEBE!
