… etwa drei Kilometer westlich von Klais, einem Ortsteil von Krün nahe des Karwendelmassivs gelegen, zog es mich am Mittwoch. Ich wollte mir mal wieder gründlich die Beine vertreten und Bergluft schnuppern…
… Es war ein bildschöner Tag, und meine Vorfreude wuchs angesichts der vielversprechenden Panoramen, die sich mir während der Zugfahrt boten…
… Die Zugspitze war von einem ganz leichten Dunstschleier umgeben, was ihr einen etwas geheimnisvollen Hauch verlieh…


… Je höher sich der Zug wand, umso klarer wurde mir, dass aus meinem Traum, am Geroldsee einen wunderschönen Frühlingsblumenteppich fotografieren zu dürfen, nichts werden würde. Zwar waren weite Flächen der südlichen und östlichen Hänge bereits aper, doch ansonsten lag immer noch ungefähr einen halben Meter hoher Schnee. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, im Zug sitzen zu bleiben und statt der geplanten Wanderung nach über zwanzig Jahren mal wieder die wildromantische und interessante Bahnstrecke zwischen Mittenwald und Innsbruck zu befahren. Aber dann stieg ich doch in Klais aus…
… Zunächst ging es über zwei Kilometer der Bahnstrecke entlang…


… Nach dem Durchqueren einer Unterführung hatte ich das winzige Örtchen Gerold erreicht. Zu meiner Freude durfte ich am Welt-Spatzentag einen dieser liebenswerten, quirligen und pfiffigen Piepmätze fotografieren, der als Wachposten oben auf einer Hecke thronte, während sich seine vielköpfige Clique laut tschilpend im Gebüsch amüsierte…

… Ich fragte ein junges Pärchen nach dem Geroldsee. Sie gaben mir freundlich Auskunft, wiesen aber darauf hin, dass der Weg zwar kurz, aber aufgrund des vielen Schnees ziemlich beschwerlich sei. Wird schon nicht so schlimm sein, dachte ich mir, und stiefelte beherzt los…


… Der Weg entpuppte sich als eine Bulldog-Fahrspur, der Schnee war aufgrund der Sonneneinstrahlung recht sulzig und machte das Gehen doch ein bisschen schwer. Nach einer knappen halben Stunde hatte ich den See erreicht…
… Jaaaaaa, auf den viel beschwärmten Frühlingsblumenteppich werden wir alle wohl noch ein ziemliches Weilchen warten müssen. Tief gefroren und verschneit präsentierte sich das kleine Seelein. Aber das Panorama war hinreissend schön…




… Aus der Bulldog-Fahrspur war eine recht feste, ebenmäßige, etwa zwei Meter breite Schneepiste geworden, mit einer griffigen Oberfläche, auf der sich gut gehen ließ, ich vermutete, dass es sich dabei um eine sorgsam gespurte Loipe handelte, obwohl keine Skispuren zu erkennen waren. Von rechts konnte ich leise den Verkehr auf der Bundesstraße 2 Richtung Garmisch hören, und das Trompeten der Züge, wenn sie einen unbeschrankten Bahnübergang einige hundert Meter vor Gerold erreichten. Ich schloss daraus, dass Klais nicht allzu weit entfernt liegen dürfte, und ich wohl dorthin gelangen würde, wenn ich der Piste folgte. Die Sonne schien so schön, umkehren wollte ich eigentlich überhaupt nicht, also setzte ich mich wieder in Bewegung, dem Unbekannten entgegen…


… Zunächst ging es sanft aber stetig bergan, in den dichten Bergwald hinein, danach recht steil bergab. Zwischen den Baumwipfeln hindurch konnte ich die eisig gefrorene Fläche eines weiteren, größeren Sees entdecken. Neugierig marschierte ich weiter…
… So manch ein Stadel hat den überaus starken und lang anhaltenden Wintereinbruch Anfang bis Mitte Januar nicht unbeschadet überstanden…


… Als ich mich dem Barmsee näherte – so heisst dieses Gewässer – kam ich von der Piste ab – ich dachte blöderweise, wenn ich geradeaus gehen würde, anstatt der Wegbiegung zu folgen, würde ich schneller an das Seeufer gelangen -, brach mit dem linken Bein bis zum Knie in den harschigen, tiefen Schnee ein und stürzte. Da die wenigen restlichen Muskeln in meinen Beinen von der Wanderung wohl schon geschwächt waren, gelang es mir nicht mehr, mich aufzurichten, sämtliche Versuche schlugen fehl. Da lag ich nun, am späten Nachmittag, die Sonne stand bereits recht tief. Weit und breit war niemand zu sehen. Ich zog mein Billigst-Kindergarten-Handy aus der Anoraktasche. Natürlich hatte ich kein Netz. Somit auch keinerlei Gelegenheit, im absoluten Notfall die Bergwacht zu rufen…
… Ein paar Minuten lang gab ich mich der Verzweiflung hin. Doch dann gewann mein praktischer und gesunder Menschenverstand die Oberhand. Etwa dreißig Meter entfernt war ein Heustadel. Wenn ich es schaffen würde, dorthin zu robben, dann könnte ich mich vielleicht an den massiven Holzbalken in eine aufrechte Stellung ziehen. In jedem Fall war das der bessere Ort als das recht ungemütliche Schneefeld. Auf allen Vieren kroch ich Richtung Hütte – ich möchte nicht wissen, wie das ausgesehen hat! Rings um den Stadel war ein schmaler Streif aper, und der Schnee bildete eine etwa einen halben Meter hohe, ziemlich feste Kante, auf die ich mich setzen konnte. Meine Hose war ziemlich nass geworden, desgleichen meine Handschuhe und das Innere meiner Stiefeletten…
… Mein Plan ging auf, ich umklammerte einen der wuchtigen Holzbalken und zog mich auf die Beine. Doch die zitterten vor all der Anstrengung wie Espenlaub, und meine Knie gaben immer wieder nach. Ich musste mich für eine Weile erneut auf die Schneekante setzen – jetzt hatte ich auch ein schön durchgefrorenes und feuchtes Hinterteil! – um neue Kraft zu sammeln…

… Von der Hütte aus führte ein schmaler, ausgetretener Pfad zurück zur Piste. Langsam und ermattet schritt ich weiter. Kurze Zeit später geriet ich an einen Wegweiser: Eine Dreiviertelstunde noch bis Klais – für Wanderer mit gesunden Gliedmaßen. Für mich hieß das, dass ich noch mindestens das Doppelte der Zeit unterwegs sein würde. Zum Örtchen Barmsee würde ich nur die Hälfte der Zeit benötigen, und laut der aufgemalten Piktogramme würde es dort eine Bushaltestelle geben. Also dorthin…
… Nach einer guten, ebenen Strecke auf einem sehr feinen und schneefreien Weg ging es in steilen Kehren einen Bergrücken hoch. Jeder Schritt wurde zur Herausforderung und kostete viel Kraft. Alle paar Meter musste ich eine kurze Pause einlagen. Oftmals spielte ich mit dem Gedanken, mich zurück zum Stadel zu schleppen, in das Heu einzugraben und zu versuchen, dort die Nacht irgendwie zu überstehen…
… Endlich hatte ich den kleinen Sprengel Barmsee erreicht. Einsam und verwaist war die Bushaltestelle – denn die wird nur während der Winter- und Sommersaison vom Ski- und Wanderbus angefahren…
… Vielleicht gab es ja in näherem Umkreis eine Pension oder Gastwirtschaft, wo ich mich für eine Nacht einmieten könnte. Das würde zwar ein tiefes Loch in meine magere Börse reissen, wäre aber am sinnvollsten. Doch der Ort war wie ausgestorben. Die vielen mit Rollos und Läden verschlossenen Fenster deuteten darauf hin, dass es sich bei den meisten Anwesen wohl um Ferien- bzw. Zweitwohnungen handelte. Und der Gasthof hatte zu…
… Es war kurz nach achtzehn Uhr. Laut Wegweiser hatte ich noch 1,8 Kilometer bis Klais zu laufen. Wieder überkam mich Verzweiflung. Wie sollte ich das nur schaffen, ich war ja ohnehin schon längst am Ende meiner Kräfte! Aber ich biss die Zähne zusammen und setzte mich in Bewegung, ganz, ganz langsam und bei jedem Schritt darauf bedacht, zuerst die Ferse aufzusetzen, und den Fuß abzurollen, um ja nicht zu stolpern. Ich wusste ganz genau, wenn ich noch einmal stürzen würde, dann würde ich das keinesfalls unbeschadet überstehen…
… Trotz all der Strapazen hatte ich dennoch meinen Blick für die Schönheiten ringsum nicht verloren…


… Der Weg führte recht nahe an der Bundesstraße 2 entlang. Manchmal blieb ich stehen, um mit nach gutem altem Brauch ausgestrecktem Daumen zu trampen. Aber niemand hielt an, oder verlangsamte das Tempo, um nach mir zu sehen…
… Gegen neunzehn Uhr hatte ich Klais erreicht. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Der Wartesaal des kleinen Bahnhofs war offen, ich schleppte mich mich völlig entkräftet zur Sitzbank, unter der sich – ach, was für eine Wohltat! – eine Heizung befand. Es galt, eine halbe Stunde bis zum nächsten Zug nach München zu warten – aber das machte mir nichts aus. Ich hatte es überstanden, ich war heil angekommen…