… Die große Flügeltür an der Ostseite des Salons, ausgestattet mit feinst geschliffenen Glasfenstern, welche allegorische Abbildungen von Sommer und Frühling zeigen, wurden von meinem Gastgeber aufgetan, und ich stand auf dem weit ausladenden Balkon mit dem verzierten Baldachin über meinem Haupte – wie ich’s mir beinahe fünfzig Jahre lang so oft erträumt hatte – genoß die wunderbare Aussicht, auch wenn das Wetter gerade nicht so recht mitspielen wollte, und verspürte eine ganz große Freude, eine tiefe Zufriedenheit…
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… Mein liebenswürdiger Gastgeber und Besitzer der Villa Marienfels: Georg W. Wagner…

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… Das lange Gespräch mit Herrn Wagner war ausgesprochen interessant, bewegend, kurzweilig. Seine Erzählungen schlugen einen weiten Bogen vom Beginn der Industrialisierung in Deutschland, unter anderem verkörpert durch den Industriellen Richard Pintsch über den Niedergang seiner ehemals marktführenden Unternehmungen, bis in die heutigen Tage…
… Es war eher geschäftliches Interesse denn naturkundliche oder gar romantische Gründe, die Anfang der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts den Erfinder der Gasbeleuchtung und Berliner Großindustriellen Richard Pintsch nach Berchtesgaden führte. Einige Steinwürfe vom Marienfels entfernt verlief die Soleleitung vom Salzbergwerk nach Bad Reichenhall. Pintsch war ursprünglich lediglich an der Beschaffenheit der verwendeten Eisenrohre interessiert. Die Korrosionen, hervorgerufen durch das Befüllen mit Gas, sind jenen ähnlich, die durch konzentrierte Sole entstehen. Richard Pintsch suchte nach verwendbaren Legierungen, welche derartigen Beschädigungen gegenüber resistent waren. Offenbar fühlte er sich dennoch durch die ländliche Umgebung, die schroff und hoch aufragenden Berge, den beschaulichen Lebensrythmus Berchtesgadens angezogen. Er beschloß, hier für sich und seine Familie eine Sommerresidenz zu errichten. Es war allerdings seinerzeit Auswärtigen untersagt, Grund und Boden zu erwerben. Richard Pintsch umging diese Auflage, indem er den einheimischen Architekten Amort beauftragte, rund um den von Gletscherschliff geprägten Kalksteinfelsen Grundstücke aufzukaufen. Die sehr angesehenen Berliner Architekten Cremer und Wolffenstein entwarfen eine Villa im Stile der Neurenaissance, gediegen, edel, anmutig über dem Ort scheinbar schwebend – und doch von einer bahnbrechenden, geradezu revolutionären Bauweise. Das gesamte Haus besteht aus einer Stahlkonstruktion, die von den im Berliner U-Bahnbau erprobten Planern und Konstrukteuren probeweise im Pintsch-Werk Fürstenwalde an der Spree zusammen gebaut, dann wieder zerlegt, per Bahn nach Berchtesgaden versandt und endgültig auf der vorbereiteten Felsplatte am Steilhang montiert wurde. Das fachwerkartige Gerüst ist nicht sichtbar und unter Putz und Stuck verborgen. Das komplette Gebäude wurde 1892 innerhalb sechs Monate errichtet.
Richard Pintsch erwies sich als großzügiger und sehr sozial orientierter Wohltäter. Er unterstützte die sogenannte Kinderbewahranstalt, trug viel zur Verschönerung des Ortsbildes bei und förderte vor allem den Bau der protestantischen Kirche Berchtesgadens. Im Jahre 1906 wurde er zum Ehrenbürger ernannt. Er starb im Jahre 1919. Seine Frau Maria, geborene Goldberg, Inhaberin der Villa, verschied 1922, große Teile des Besitzes wurden an verschiedene Interessenten verkauft, lediglich das Hauptgebäude und der dazu gehörige Park, auf dessen vielfältigen Terrassen eine Unzahl seltener Gewächse gediehen und dessen mediterranes Flair sprichwörtlich war, blieben in der Hand einer Erbengemeinschaft.
Die Firma Pintsch, dereinst eines der größten Industrieunternehmen Deutschlands, fand ihren Niedergang 1924. Bei Bellinzona ereignete sich ein schreckliches Unglück, zwei Züge prallten frontal aufeinander, der eine, mit Pintsch’er Gasbeleuchtung versehen, knappe fünfzig Jahre zuvor noch eine revolutionäre Erfindung sondergleichen, weil nun endlich die Eisenbahnen auch des Nachts verkehren durften, ging in Flammen auf, sämtliche Passagiere kamen ums Leben. Unter den Insassen des anderen, der bereits über elektrisches Licht verfügte, gab es lediglich eine Handvoll Verletzte. Zudem fehlte es an einem qualifizierten Erben, die drei Töchter waren recht wohlhabend nach Ostpreussen verheiratet worden, Erwin, der einzige Sohn, verfiel dem Alkoholismus und starb, knapp dreißigjährig, in Berchtesgaden. Sein Grab befindet sich auf dem Alten Friedhof.
Die Villa Marienfels ging düsteren Zeiten entgegen. Sie verfiel zusehends. In den dreißiger Jahren wurde sie gottlob von dem Kapellmeister und Musikdirektor Wagner erworben. Der gebürtige Südtiroler hatte sich in die Tochter eines alteingesessenen Berchtesgadener Bauern verliebt und sich in dem Marktflecken nieder gelassen. Die Nationalsozialisten wollten das Bauwerk allerdings schleifen lassen, weil ein jüdischer Architekt – Wolffenstein – maßgeblich an dessen Errichtung beteiligt gewesen war, und an dessen Stelle einen urbayerischen Bauernhof errichten. Das Ende des Zweiten Weltkriegs setzte diesen Plänen ein Ende. Allerdings mußte der Villen-Besitzer in Kauf nehmen, daß sich Mitglieder der Amerikanischen Streitkräfte auf dem Anwesen einquartierten – und ihn und seine Familie kurzerhand an die Luft setzten.
Als der jetzige Besitzer, Georg F. Wagner, Sohn des Musikdirektors, konkrete Pläne zur Renovierung der Villa fasste, stieß er lange Jahre auf erbitterten Widerstand. „Ich habe neunundzwanzig Nachbarn.“, erzählte er mir. Allein das Erbauen einer schmalen Sandstraße, um den Transport von Baumaterialien und Lieferungen zu erleichtern, forderte ihm einen fünf Jahre währenden Rechtsstreit vor allem mit dem Pastor der Berchtesgadener evangelischen Kirche, die sich in unmittelbarer Nähe befindet, ab. Zudem steht das Gebäude unter Denkmalschutz „… zum Interesse der Allgemeinheit. Das Traumhaus kann unter diesen Umständen ganz leicht zu einem Alptraum werden…“ Herr Wagner bemüht sich mit sehr großer Sorgfalt und einem unermüdlichen Engagement um die schrittweise Vervollständigung der Renovierung. „Da sieht man sich sehr oft großen Schwierigkeiten gegenüber. Zum Beispiel darf ich beim Ausbessern und Verfugen von Mauerwerk keinen Mörtel verwenden, der mit Zement angereichert worden ist. Die Mauern bestehen aus weichem Kalkgestein, und genau so muß auch ein Mörtel beschaffen sein. Es hat zehn Jahre gedauert, ein Badezimmer zu erneuern… Im Vestibül wurde ein sogenannter Kasein-Lack mit Goldornamenten verwendet, die mit einer speziellen Schablone angebracht wurden. Finden Sie heutzutage einmal Jemanden, der sich auf derartige Arbeiten noch versteht – und die entsprechenden Materialien hat!… Dieses Haus hier können Sie nur dann erhalten, wenn Sie eine Unmenge Zeit dafür aufwenden – und viel Geld dazu. Da darf man nicht daran denken, sich ein Luxusauto zuzulegen oder einen feudalen Urlaub zu leisten. An erster Stelle steht bei solchen Überlegungen immer das Haus… Aber das ist meine Lebensaufgabe – und die meines Sohnes wird es auch sein.“…
… Viel zu rasch sind die eineinhalb Stunden vergangen. Herr Wagner begleitete mich hinab zur Pforte. Wir verabschiedeten uns sehr herzlich voneinander. Vor allem sein letzter Satz, begleitet von einem direkten, freundlichen Blick und festem Händedruck, klang in mir noch lange nach: „Sie sind hier immer willkommen.“…
