Marthas Momente-Sammlung

Glück ist die Summe schöner Momente

Rücksichtnahme, Achtsamkeit und Inklusion? Fehlanzeige!…

… Annuschka hat so etwas wie ein neues Projekt ins Leben gerufen, das sich Montagsmotz nennt, und einem zumindest einmal pro Woche die Gelegenheit bietet, richtig Dampf abzulassen – natürlich auf zivilisierte Weise und nicht mittels wüster Beschimpfungen und verbaler Entgleisungen…

… Das Thema meines „Premierenmotz“ beschäftigt mich schon seit einer geraumen Weile:…

… Die gute alte Sitte, betagten und schwerbehinderten Menschen in Öffentlichen Verkehrsmitteln einen Sitzplatz zu offerieren, ist fast völlig in Vergessenheit geraten. Begibt man sich mit einem Rollator bzw. Gehstützen in einen Bus, eine Tram, S-Bahn etc., ist damit zu rechnen, dass man trotz seines maladen Zustandes stehen muss, wenn das Verkehrsmittel gut besetzt ist. Trotz der ausgewiesenen Schwerbehinderten-Sitzplätze. Die gibt so gut wie niemand mehr für invalide Mitmenschen frei, und wenn einem mal jemand seinen Sitz anbietet, dann sind das ältere Leute, denen das noch in der Kinderstube beigebracht worden ist, bzw. solche mit deutlich sichtbarem Migrationshintergrund! Manchmal zücke ich meinen Behindertenausweis und halte ihn mit den Worten „Darf ich, bitte, Platz nehmen?“ den desinteressierten unversehrten Mitmenschen unter die Nase. Oft, vor allem, wenn ich nur wenige Stationen zu fahren habe, bin ich mir aber zu schade, um eine Sitzgelegenheit quasi zu betteln, und bleibe lieber stehen. Es ist häufig auch ein nicht ganz leichtes Unterfangen, während der Fahrt die Geldbörse aus der Umhänge- oder Jackentasche zu pfriemeln, vor allem deshalb, weil etliche Bus- und Trambahnchauffeure fahren wie die sprichwörtliche gesengte Sau. Ich habe es mir inzwischen angewöhnt, Strecken im Radius von einigen Kilometern zu Fuß zu gehen und den Öffentlichen Nahverkehr zu meiden. Ist gut für meine Gesundheit, und den Frust, die Trauer und den Zorn über das Verhalten meiner Mitmenschen erspare ich mir dabei auch…

… Auch wenn man den Rollator sichtlich schwer beladen hat, mit einem „Kartoffelporsche“, Koffer oder großem Rucksack unterwegs ist, hilft einem unaufgefordert in der Regel so gut wie niemand. Spricht man die Umstehenden darauf an, heisst es häufig: „Wenn Sie schön Bitte gesagt hätten, dann hätten wir Ihnen auch geholfen.“ Kein Schmäh, das habe ich in der Tat schon um die Ohren gehauen bekommen! Kommt noch dazu, dass es immer noch eine erkleckliche Anzahl Fahrer:Innen im Öffentlichen Nahverkehr gibt, die anscheinend der Meinung sind, es würde Geld kosten oder weh tun, das Fahrzeug mittels Knopfdruck so abzusenken, so dass man als Schwerbehinderte problemlos einsteigen kann. Wie oft ich bereits schmerzhaft zwischen sich schließende Bustüren eingeklemmt worden bin, weil der/die Lenker:In nicht die Geduld besaß, mein Aussteigen abzuwarten, kann ich an den Fingern beider Hände nicht mehr abzählen…

… Es geht beileibe nicht nur mir so! Vor kurzem habe ich, während ich mit der Tram unterwegs war, beobachtet, wie an einem Nebengleis einer großen Haltestelle ein Fahrgast, der ein steifes Bein hatte, versuchte, in die Tram zu steigen. Immer und immer mühte er sich verzweifelt ab. Von den Umstehenden und bereits im Waggon Sitzenden machte kein einziger auch nur den kleinsten Finger krumm, um ihm behilflich zu sein, obwohl man ihm recht interessiert bei seinen Anstrengungen zusah! Ich als Versehrte musste neulich im Bus einen alten Mann auf Krücken stützen, der ums Haar im Stehen das Gleichgewicht verloren hätte. Natürlich hat weder ihm noch mir jemand einen Platz angeboten, geschweigedenn sich seiner angenommen…

… Warum sind solch simple Anstandsregeln wie seinen Sitzplatz Alten und Behinderten anzubieten, beim Ein- und Aussteigen behilflich zu sein, Türen aufzuhalten, rücksichts- und respektvoll mit Menschen umzugehen, die sichtlich körperlich beeinträchtigt sind, in den vergangenen Jahren so sehr in Vergessenheit geraten? Ist das nicht mehr „hipp“, „schick“, „trendy“? Hat die Zahl der einzig und allein auf sich selbst fixierten Egoisten schon dermaßen überhand genommen?…


13 Antworten zu “Rücksichtnahme, Achtsamkeit und Inklusion? Fehlanzeige!…”

  1. Das deckt sich mit meinen eigenen Erfahrungen. Ich habe schon ganze Zugfahrten in der Hocke oder ganz auf dem Boden sitzend verbracht, obwohl viele Leute mit Sitzplatz meiner angesichtig wurden. Gut kann man das Phänomen auch an Supermarktkassen beobachten, wenn man mit zwei Artikeln in der Hand an der Kasse steht, erkennbar nicht gut zu Fuß ist, und vor einem Menschen freundlich lächeln und dann weiter Dinge aus ihrem Einkaufswagen aufs Band schaufeln, der aussieht, als würde sich darin der Wocheneinkauf für eine Kaserne befinden.

    • Ich wäre schon einmal ums Haar mit einem Zug ins Depot gefahren, weil mir niemand geholfen hatte, den Rollator aus dem in keinster Weise behindertengerecht gestalteten Waggonausstieg zu hieven. Als ich kurz vorm Heulen war und mit den Nerven völlig am Ende hilflos zwischen Waggon und Bahnsteig baumelte, hatte eine Angestellte des Bord-Bistros endlich ein Einsehen mit mir und eilte zu Hilfe.

  2. Liebe Martha, erstmal willkommen beim Montagsmotz. Vieles, was du hier schreibst, kann ich gut nachvollziehen. Aber auch ein paar ergänzende Gedanken habe ich dazu:
    Als eine meiner Töchter letzten Spätsommer erkennbar hochschwanger öfter mit dem Bus unterwegs war, berichtete sie mir ganz begeistert, dass immer wieder Schülerinnen (ohne großes Binnen-I) ihr einen Platz angeboten haben. Da war offensichtlich eine Art Solidarität zwischen jungen Frauen.
    Zum Anderen habe ich aber während der 9-Euro-Zeit bei meinen täglichen Busfahrten, während die Schule noch lief, auch viele SchülerInnen erlebt, denen beispielsweise die Maskenpflicht im überfüllten Bus schnurzegal war.
    Das Bild ist also uneinheitlich. Das Problem mit dem Absenken des Busses ist gerade hier bei uns letzte Woche in der Zeitung thematisiert worden, da gibt es anscheinend überregional Busfahrer, denen es am A**** vorbeigeht, ob Gehbehinderte ohne Mühe ein- und aussteigen können.

    Noch schwieriger wird es, wenn es um das Thema Hilfestellung geht. In Minden gibt es einen Behindertenbeirat, der sehr rührig ist. Und aus nachvollziehbaren Gründen auch darauf hinweist, dass man nicht einfach aus vorauseilendem Gehorsam irgendwas tun soll (wobei es ganz eindeutig darum geht, vorher zu erforschen, was Leute an Hilfe überhaupt gebrauchen können), weil das auch übergriffig sein kann.
    Mir fällt da ein alter Sketch ein, wo ein junger Mann eine alte Dame nötigt, von ihm über die Straße geleitet zu werden. Am Ende ist er der Meinung, ein Held zu sein, während die Dame gar nicht über die Straße wollte und dadurch erst ein Problem bekam.

    Nun ist aber in Deutschland das Schulsystem so gestaltet, dass sehr viele Kinder und Jugendliche mit Körperbehinderten überhaupt nicht in Berührung kommen. Und auch später im Arbeitsleben gibt es Behindertenwerkstätten, die mit Sonderverkehr angefahren werden. Bitte nicht falsch verstehen, das hat alles für manche seine Berechtigung, aber dadurch tauchen manche Behinderungen im Alltag selten auf und viele junge Menschen wissen auch nicht, wie sie sich dazu verhalten sollen. Und viele Eltern haben schlichtweg entweder keine Zeit oder eben auch keine Motivation, ihren Kindern klarzumachen, dass jeder einzelne Mensch sehr schnell zum Betroffenen werden kann. Ein eindeutiger Nachteil unserer (allgemein gesprochen) Selbstoptimierungssucht.

    Und jetzt kommt die letzte Wendung: Gut, dass du dieses Thema aus deiner Sicht ansprichst, denn was in so vielen Bereichen, auch hier, fehlt, ist das breit gefächerte Gespräch über ganz alltägliche unterschiedliche Probleme im Zusammenleben, das vor den übergroßen Krisen unserer Zeit unterzugehen droht, aber wichtig für die Haltung der Gesellschaft ist.

    Mit dieser Überlegung wünsche ich mir/uns noch viele erfolgreiche Montagsmotze😀.
    Feuchtkalte Grüße aus dem relativen Norden
    Anja

    • Ich danke dir sehr für deine ergänzenden Gedanken. In Bezug auf einen deiner letzten Absätze könnte man schlussfolgern, dass hierzulande zwei nach wie vor sehr wichtige Themen tunlichst ausgespart werden: Der Tod und das Dasein Schwerbehinderter. Nimmt das wirklich so viel Zeit und Mühen in Anspruch, als Eltern dem Nachwuchs zu erklären, dass man auf die Schwächeren und Behinderten in unserer Gesellschaft etwas Rücksicht nehmen und Verständnis für sie haben soll? Recht viel mehr Zeit hatten doch unsere Vorfahren auch nicht zur Verfügung, und da war es selbstverständlich, diese Verhaltensregeln weiter zu geben!

  3. Du hast vollkommen recht, in der Landwirtschaft zum Beispiel hatten die Menschen auch überhaupt keine Zeit. Und der Nachwuchs saß bei Uroma im Stübchen und wurde gehütet und lernte damit den Umgang mit den Alten – und zwar by doing.
    Wenn ich meine Tochter und meine Nicht so höre, gibt es immer mehr Themen, die eigentlich von den Eltern vermittelt werden sollten, aber dann den Erzieherinnen in der Kita überlassen werden.
    Alles können die auch nicht einfangen. Ich finde es auch sehr schade, dass gefühlt immer mehr alles ausblenden, was nicht mit ihrer unmittelbaren Lebenswirklichkeit zu tun hat. Alles, was unbequem werden könnte, wird an die Seite geschoben. Zum Glück nicht von allen.

  4. Leider eine ungute Entwicklung. Ich bin mal ungefragt aufgestanden und bin dafür ziemlich bescheuert angeglotzt worden. Und als die Person dann wieder ausstieg, war es nicht möglich, dass ich mich wieder hinsetze. So zu den ganz jüngsten Hüpfern gehöre ich nun auch nicht mehr…
    Manchmal verbrassele ich es aber auch wirklich. Da bin ich dann in Gedanken. Wenn ich dann rüde angegangen werde, doch gefälligst auch mal meinen Hintern zu heben, dann kommt das nicht unbedingt gut an. Ich kann es aber gut verstehen, dass man sauer ist, wenn man sich einen Sitzplatz erkämpfen muss, obwohl es einem ganz klar sichtbar schwer fällt zu stehen und zu gehen. Das sollte durchaus eine Selbstverständlichkeit sein. Dann würde die, die es wirklich mal verbrasseln auch nicht ungut auffallen.

    • Viele konzentrieren sich mittlerweile ja auch ausschließlich auf ihr „Mäusekino“, und nehmen gar nicht mehr wahr, was ringsum so vor sich geht. Und wenn mal jemand tief in Gedanken versunken ist, dann kann ich das sehr gut nachvollziehen, das geschieht mir ja auch gelegentlich. Und wenn ich mal meinen Ausweis vorzeige und um den Sitzplatz bitte, dann gebe ich mir immer Mühe, zumindest halbwegs freundlich zu sein. – Was mich so ärgert und frustriert, das sind jene – und das sind nicht grade wenige! -, die einen durchaus wahrnehmen, und sogar in die Augen sehen, aber dennoch ausgesprochen provokant sitzen bleiben. Oder die zusehen und sich sichtlich daran ergötzen, wie man sich abmüht, seine Last in oder aus den Bus/dieTram/den Zug zu bekommen so nach dem Motto: „Schafft sie’s oder haut sie’s auf die Schnauze? Und wenn, lohnt sich das, mit dem Handy zu filmen und online zu stellen?“. Ich war mal so frech und so frei und habe an einer Haltestelle solche Leute angesprochen und Eintritt für die Show verlangt, nachdem ich den vollbepackten Hackenporsche mit viel Mühen ohne Hilfe aus dem Bus gezerrt hatte.

      • Ja, ich weiß schon, was Du meinst. Und leider beobachte ich sowas ja auch immer wieder. Wenn ich nah genug dran bin oder rankomme, dann frage ich, ob Hilfe gewünscht ist – manchmal greife ich auch einfach zu und sage was dazu…
        Daran wird wohl die Anonymität der Großstadt einen großen Anteil haben.

  5. Liebe Martha du sprichst mir aus dem Herzen. Viele meiner eigenen Erfahrungen wurden hier in den Kommentaren schon erwähnt. Ich selber werde nicht aufgeben und diese Rücksichtslosigkeiten vor Ort auch immer gleich laut und deutlich anzusprechen. Das gibt zwar viele böse Blicke aber das ist mir egal und für mich eine Frage von Zivilcourage. Ich bin sehr oft im Ausland unterwegs und stelle immer wieder fest daß Deutschland in puncto Rücksichtslosigkeiten eine unrümliche Spitzenstellung einnimmt. Sehr traurig aber hier ist Egoismus scheinbar bei vielen „cool“ 😒

    • Die Beobachtung, dass man im Ausland mehr Rücksicht auf Schwerbehinderte und alte Menschen nimmt, habe ich auch schon oft gemacht. Bei meinen Wien-Reisen im vergangenen Jahr ist mir immer wieder positiv aufgefallen, dass dort in den Öffentlichen per Lautsprecherdurchsage aufgefordert wird, Sitzplätze für Versehrte frei zu machen. Vielleicht sollte man das hier auch einführen. In den USA hat es vor 35 Jahren schon hydraulisch absenkbare Busse gegeben, da hat man hierzulande noch überhaupt nicht an dergleichen gedacht. – Ich habe hier schon erlebt, dass sich junge Menschen untereinander brüsteten, mit Alten und Schwachen grob umgegangen zu sein. Und auch, dass in unserem Land unter vielen Jungen die Bezeichnung „behindert“ als diskriminierendes und verächtliches Schimpfwort verwenden.

This function has been disabled for Marthas Momente-Sammlung.

Die mobile Version verlassen