… Eine Erinnerung an meine erste Floridareise im Jahr 1999…
… Beinahe unmittelbar nachdem ich das erste Mal den Boden Floridas betreten hatte, näherte sich ein Hurrikan der höchsten Kategorie Fünf der Ostküste des Sunshine State. Den ersten Urlaubstag in Orlando konnte ich in Disneys Magic Kingdom noch recht unbeschwert verbringen, am nächsten Tag allerdings musste ich das Epcot Center im Sauseschritt durchmessen, da man angesichts der drohenden Katastrophe die Themenparks bereits am frühen Nachmittag schloß, was seit der Eröffnung im Jahr 1971 noch nie vorgekommen war. Als ich auf dem Expressway vorsichtig zu meiner Unterkunft nahe Orlandos Innenstadt schlich, denn von Osten her fauchten inzwischen stoßweise ausgesprochen heftige Böen heran und ließen meinen Mietwagen gefährlich schlingern, war Richtung Landesinnere der Verkehr bereits zum Erliegen gekommen. Stoßstange an Stoßstange drängten sich die Fahrzeuge vieler Tausender Küstenbewohner, die ihre Heimstätten verlassen hatten, um fern des als verheerend angedrohten Sturmes Schutz zu suchen…
… Das Foyer und der Speisesaal des kleinen Hotels, in welchem ich logierte, war proppenvoll mit Geflüchteten, die auf dem gefliesten Boden ihre Schlafsäcke, Matratzen, Kissen und Decken ausgebreitet hatten, lediglich ein schmaler „Pfad“ war zwischen den Schutzsuchenden verblieben, auf dem man zu den einstöckigen Wohngebäuden gelangen konnte, ohne auf Hände, Füße, kleine, greinende Kinder, Spielsachen, Picknickkörbe, Kofferradios, Schuhe, Klamotten, Kulturbeutel etc. zu treten. Im Supermarkt nebenan musste ich zwei Stunden warten, um einige der letzten großen Wasserflaschen und ein paar Sandwiches zu ergattern…
… Es wurde eine unruhige und schlaflose Nacht. Der Sturm heulte und donnerte um die Ecken der Anlage, rüttelte heftig an den Wänden, zerrte an den Fenstern und Türen. Ich hatte die Badewanne bis zum Rand mit kaltem Wasser befüllt, der Fernseher lief und versorgte mich pausenlos mit den neuesten Informationen über die Route von „Flloyd“, so der Name des Hurrikans. Jede Stunde irrlichterten die Lichtkegel patrouillierender Sicherheitskräfte durch den kleinen Park. Ich hielt zwar das Päckchen mit den Sandwiches unentwegt in den Händen, vergaß aber vor lauter Anspannung und auch Furcht völlig darauf, zu essen. Gegen Morgengrauen nickte ich dann kurz ein…
… Als ich unausgeruht und zerschlagen Richtung Lobby tapperte, um auszuchecken, denn die Bleibe für die kommenden drei Tage war in Cocoa Beach vorgebucht worden, löste sich das Chaos allmählich auf, allerortens wurden die Habseligkeiten eingesammelt, an den beiden Toiletten/Waschräumen stand man geduldig in langen Schlangen an, um sich wenigstens halbwegs frisch machen zu können. „Flloyd“ hatte sich quasi in letzter Sekunde zu einem Hurrikan der Kategorie Vier abgeschwächt, die Ostküste Foridas verschont und war wieder auf’s offene Meer hinaus gezogen. Erleichterung machte sich allerortens breit, fast so etwas wie Volksfeststimmung kam auf. Mit Musik, Lärm, Spruchbändern und auf Anzeigetafeln tat man die große Freude und Erleichterung kund, wieder einmal von der drohenden Katastrophe verschont geblieben worden zu sein…
… Übermüdet, nervös und emotional durch die Ereignisse der vergangenen vierundzwanzig Stunden sehr beansprucht, reihte ich mich in die endlose Phalanx der an die Ostküste zurück Kehrenden ein. Als aus einer Stunde schier unentwegt im Schritttempo dahinzuckelnd zwei, dann gar drei wurden – normalerweise fährt man von Orlando nach Cocoa Beach ungefähr vierzig Minuten – hatte ich nur mehr einen sehnlichen Wunsch: Meine Ruhe haben und ungestört schlafen können…
… Je näher ich der sogenannten Space-Coast kam, umso augenfälliger wurden die Sturmschäden: entwurzelte Bäume lagen beiderseits des Beeline-Expressways, dicke Strommasten waren geknickt worden wie Streichhölzer, etliche Behausungen waren nur mehr wirre Bretterhaufen, überragt von steinernen Kaminschloten. Pausenlos begleitete das Gellen der Sirenen von Feuerwehren die letzten Kilometer der kurzen Reise, zuhauf patrouillierten Trupps der Nationalgarde und der für die jeweiligen Countys zuständigen Sherriffs, Kabel wurden geflickt, Häuser leer gepumpt, Verschalungen an Türen und Fenstern entfernt, Scherben, Schlick und Unrat zusammengefegt, Dächer und Zäune repariert…
… Vorsichtig bog ich in die geschwungene Ausfahrt des „Holiday-Inns“ in Cocoa Beach ein, stieg aus – und stand vor einem verrammelten und verriegelten Anwesen. Mir wurden die Knie flatterig. Herrschaftszeiten, was mach‘ ich jetzt bloß! Vorsichtig pirschte ich mich um das Hauptgebäude auf die Rückseite. Durch ein gekipptes Fenster konnte ich leises Stimmengewirr vernehmen…
… Im Büro des Hotels tobte das Leben, pausenlos klingelte das Telefon, Fax-Geräte surrten, die Tasten der Computer-Keyboards klapperten in wirbelndem Rhythmus. Nach kurzem Klopfen trat ich ein, beherzt mein Voucher schwenkend. „High, ich bin Frau I. aus München, Deutschland, ich habe für die nächsten drei Nächte ein Hotelzimmer bestellt!“ Fünf Augenpaare wandten sich mir zu und starrten mich an, als wäre ich eine Spukgestalt. Der junge Hoteldirektor schluckte, ich sah seinen Adamsapfel nervös tanzen. „Ja, sehen Sie, unser Haus ist leider noch geschlossen.“ Erneut winkte ich mit dem Voucher, allerdings sehr matt, und diesmal wortlos. Der Direktor lächelte mich an: „Wissen Sie was, fahren Sie doch wieder zurück nach Orlando, ich kläre das telefonisch ab und lasse Ihnen ein Zimmer in einem unserer Häuser dort reservieren.“ Mein Stimmchen der Vernunft flüsterte: „Der Mann hat Recht.“ Aber ich war Vernunftgründen nicht mehr zugänglich. „Ich habe über drei Stunden von Orlando hierher gebraucht – und ich fahre jetzt nicht mehr dorthin zurück.“ Ich fühlte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Da bog ein Haustechniker um die Ecke und verkündete, dass man im Nordflügel wieder Strom und fließendes Wasser habe. Der Hotelchef nickte mir zu. „Wir könnten Ihnen jetzt ein Zimmer geben, Frau I. Allerdings ohne jeglichen Komfort. Unser Restaurant wird erst morgen früh öffnen und ich glaube, der Wallmart gegenüber ist auch noch zu.“ Ich schüttelte erleichtert den Kopf. „Ach, das macht mir nichts! Hauptsache, ich habe ein Bett zum Schlafen und ein Dach über dem Kopf. Ich habe zu Trinken dabei und noch einige Sandwiches. Das ist schon okay.“ Man zeigte mir meine Bleibe und schärfte mir ein, dass ich auf gar keinem Fall die Türe hinter mir ins Schloss fallen lassen dürfe, wenn ich das Zimmer verlassen würde, da man nicht dafür garantieren könne, dass die elektronischen Schlösser bereits wieder zuverlässig funktionierten…
… Als ich aus der schön eingerichteten, großzügig geschnittenen Unterkunft einen Korbstuhl und ein Tischchen auf die Veranda zerrte, um ein frühabendliches Picknick zu veranstalten, wurde mir das Abenteuerliche dieser Situation bewusst. Ich war einen Abend und eine Nacht lang der einzige Gast eines Siebenhundert-Betten-Hotels…
… Am nächsten Morgen erhob sich die Sonne feurig über der letzten verbliebenen Wolkenbank am Horizont des Atlantik und grüßte mich, als habe es nie so etwas wie einen Hurrikan namens „Flloyd“ gegeben…

… Flloyd hatte Florida zwar großenteils verschont, richtete aber in seinem weiteren Verlauf an der amerikanischen Ostküste, insbesondere in North Carolina, durch katastrophale Überschwemmungen verheerende Schäden an. 2,6 Millionen Menschen wurden vor Flloyd in Sicherheit gebracht, dies war die viertgrößte Evakuierung in der Geschichte der USA. 85 Menschen starben, der Schaden belief sich auf 6,5 Milliarden Dollar…