… Venedig steht auf sandigem Untergrund. Seit jeher bewirkt das Gewicht der prachtvollen Bauten, dass die Stadt versinkt, etwa zehn Zentimeter pro Jahrhundert. In jüngster Vergangenheit beschleunigte sich dies – der Meeresspiegel steigt, zudem hatte man in den sechziger Jahren unter der Lagune Grundwasser für die Industrieanlagen in Maghera abgepumpt. La Serenissima sank pro Jahr um 14 Millimeter. Seit das Abpumpen gestoppt wurde, hat sich das Tempo auf ein bis zwei Millimeter jährlich reduziert. Aber der Wasserspiegel hat sich, seitdem die Messungen im Jahr 1870 begannen, um 30 Zentimeter gehoben…
… Das Tragen von Gummistiefeln gehört in den kalten Jahreszeiten zum Alltag der Venezianer. Und die sogenannten „Passarelle“, die hölzernen Stege, die jedesmal kreuz und quer durch Venedigs Calle und vor allem über den Markusplatz gelegt werden, sobald zwischen Oktober und April die Warnsirenen ertönen, die das Hochwasser, Aqua Alta genannt, ankündigen. Immer häufiger kriechen die Fluten aus den Kanälen hoch, über die Gehwege und bis in die Erdgeschosse der Häuser, fünf- bis sechsmal pro Jahr, manchmal sogar bis zu zehnmal…
… Doch es scheint, als stünde die Rettung so gut wie unmittelbar bevor. Denn im Herbst 2017 – ursprünglich war die Fertigstellung für 2014 geplant gewesen, verschob sich aber durch einen handfesten Korruptionsskandal und dessen Aufdeckung – soll der M.O.S.E.-Damm in Betrieb gehen und La Serenissima vor den Fluten bewahren. Zumindest vorerst…
… M.O.S.E. ist die Abkürzung für Modulo Sperimentale Elettromeccanico (experimentelles elektromechanisches Modul), spielt allerdings natürlich auch auf den biblischen Propheten an, der durch das Teilen des Roten Meeres das Volk Israels rettete. Aufgabe des modernen Mose ist es, die Lagunenstadt und ihre unermesslichen Schätze, die alljährlich von bis zu 30 Mill. Touristen besucht werden, vor weiterem Schaden zu bewahren…
… Das technische Wunderwerk ist an normalen Tagen nicht zu sehen. Unter den sanft ziehenden Wellen liegen in einem riesigen Fundament aus Stahlbeton stählerne Kästen verborgen, jeder von ihnen zwanzig Meter lang und ebenso breit. Droht eine Flut, wird Pressluft eingepumpt, die Kästen richten sich binnen einer Viertelstunde auf und bilden ein schräges Bollwerk. So sollten Hochwasser bis zu einer Höhe von drei Metern an allen drei Meeresöffnungen der Lagune abgehalten werden…
… Das „Gehirn“, die Schaltzentrale von M.O.S.E., ist in einem äußerlich unscheinbaren Industriebau im Bereich der einstmals höchst produktiven und legendären venezianischen Schiffswerft Arsenale untergebracht. Und sie ist bereits seit 2011 in Betrieb. Permanent laufen Wettermeldungen, Daten von Meeres-Mess-Stationen, Vorhersagezentralen und Webcams ein. Unzählige Simulationen und etliche praktische Tests an den bereits installierten Elementen des Schutzdammes beweisen eindeutig: M.O.S.E. funktioniert!…
… Ich ließ es mir nicht nehmen, mit einem der doppelstöckigen, großen Vaporetti der Linie 14 hinaus zu fahren nach Punto Sabbioni, vorbei an der riesigen M.O.S.E.-Baustelle, um diese einmal zumindest im langsamen Vorbeifahren ein wenig in Augenschein zu nehmen. Auch wenn das Projekt bislang 5,5 Milliarden Euro verschlungen hat – viermal mehr, als ursprünglich geplant – und die Instandhaltung pro Jahr schätzungsweise mit 30 Millionen Euro zu Buche schlagen wird, auch wenn Umweltschützer gefährliche Auswirkungen auf das fragile Ökosystem der Lagune befürchten – es könnte uns La Serenissima für viele weitere Jahre erhalten. Bis man hoffentlich eine neue Lösung finden wird, eine der schönsten Städte der Welt zu schützen und zu bewahren…