Es gibt jetzt eine Maßeinheit für Peinlichkeit: das Merz.
Unterteilt in „Merz“ (Huch!), Kilomerz (Autsch!) und Megamerz (laute Schmerzenzschreie). Dazwischen diverse Abstufungen. (Auf @bluesky entdeckt)
Merzens Fritze auf der Suche nach neuen Fettnäpfchen:
Unmittelbar nach Frau Perls Abgang brachen auch die Damen und Herren des Seniorentreffs auf, schweigsam, betroffen, die Köpfe gesenkt, die Blicke der anderen meidend. Jegliche vorweihnachtliche, fröhliche Stimmung war verpufft. Nur Frau Stegert hängte sich betont fürsorglich beim schwer gehbehinderten, neunzigjährigen Herrn Kramer ein und gellte: „Ich bring‘ Sie nach Hause. Nicht dass Ihnen noch etwas passiert, es ist schon dunkel, und vielleicht ist die Straße glatt.“
Der alte Mann wandte sich ihr zu: „Was hat denn die Frau Perl gesagt? Ich hab das alles nicht so richtig mitbekommen.“
„Ja, mei, sie hat sich von uns verabschiedet, weil sie zu ihrem Sohn zieht, und uns ein frohes Fest und alles Gute gewünscht.“
In ihrem behaglichen und blitzsauberen Häuschen angekommen hängte sie sorgfältig den Mantel auf und entledigte sich ihrer Schuhe. Dann wandte sie sich dem Portrait ihres Mannes über dem Garderobenschränkchen zu – eines von vielen, die im ganzen Anwesen verteilt waren: „Die Perl ist immer schon eine gspinnerte blöde Kuh gewesen, aber heut hat sie sich wie eine Verrückte aufgeführt.“
Sie ging ins Wohnzimmer und einem spontanen Impuls folgend nahm sie das Telefon und wählte die Nummer ihrer älteren Tochter.
„Irene, ich bin‘s, die Mama. Sag mal, habt ihr nicht Lust, Weihnachten bei mir zu verbringen? Platz ist genug, die Kinder können ja unten im Keller im Bastelraum vom Papa schlafen.“
„Tut mir leid. Wir verbringen die Feiertage bei den Eltern vom Ferdl in Südtirol. Die Bärbel hat ja am Fünfundzwanzigsten einen großen runden Geburtstag, und uns alle eingeladen.“
Alle außer mich, der Gedanke stach Frau Stegert ins Herz. Nach ein paar nichtssagenden Floskeln und einem kurzen, schwer lastenden Schweigen war das Gespräch beendet.
Sie und ihr Mann hatten die angeheiratete Verwandtschaft, die in einem kleinen Bergdorf nahe Brixen ein kleines Obst- und Weingut bewirtschaftete, vor etlichen Jahren ein paar Tage lang besucht, das war kurz nach der Geburt des ersten Enkels gewesen. Frau Stegert wurde mit Irenes Schwiegereltern nicht recht warm, trotz – oder vielleicht gerade wegen – deren lebensvoller, offener und freundlicher Art. Anders verhielt es sich mit ihrem Mann, er war von den Beiden auf Anhieb begeistert, und nach einem spannenden Tag, den er zusammen mit Ferdl Senior in der riesigen Franzensfeste verbracht hatte, bahnte sich eine Freundschaft zwischen den Männern an.
Doch Frau Stegert hatte in ihrer Ehe das Motto „Du sollst keine anderen Götter – und Freunde! – neben mir haben!“ zum obersten Credo erhoben, und so stichelte und hetzte sie so lange gegen die Südtiroler, bis das Verhältnis abkühlte und ganz erlosch.
Sie fühlte sich einsam und müde, und es fröstelte sie, so kauerte sie sich in ihren voluminösen Lieblingssessel mit Blick auf die Müllcontainer, und wickelte sich in eine flauschige, sandfarbene Decke. Einen Wimpernschlag lang glomm ein winziger Funken Reue, Scham und Bedauern in ihr auf – und verlosch.
Ein Auto näherte sich der Senke, genauer gesagt der Geländewagen vom Bauern Lenz vom Alpbichl. Frau Stegert setzte sich ruckartig auf und griff nach dem Opernglas. Der Lenz hatte die Scheinwerfer seines Wagens brennen lassen, und sich außerdem noch eine Stirnlampe über die dicke Wollmütze geschoben, mit der er seinen kantigen, fast kahlen Schädel vor dem kalten Winterwind zu schützen pflegte, so konnte seine Beobachterin sehr genau erkennen, dass er wieder einmal ein dickes Bündel Textilien in den Behälter für die Altkleider gab.
Kaum hatte der Bauer seinen Heimweg angetreten, pirschte sich Frau Stegert an die Container heran, um genauer nachzusehen. Sie hatte ihr kleines Küchenschemelchen dabei, erklomm dieses, stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte hinein. Sie griff nach dem großen Bündel und zog es zu sich heran. Es waren ausschließlich Frauenkleider. Was das wohl zu bedeuten hatte?
Wieder zurück in ihrem gemütlichen Sessel kam ihr die Erleuchtung: Die Lenzens hatten Eheprobleme! Vermutlich lebten die Beiden schon in Scheidung, die Frau – die ist aber in letzter Zeit auch immer magerer geworden, und hat sich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr im Ort blicken lassen! – war deswegen ausgezogen, und der Kerl hat nun entsorgt, was sie nicht mitgenommen hat! Ja, genau! So musste es sein! Sie dachte lange darüber nach, und je detaillierter sich in ihrem Kopfe diese Geschichte zu formen begann, die sie gleich morgen im Supermärktchen ihren Bekannten erzählen würde, desto wärmer wurde ihr, und desto wohler begann sie sich zu fühlen.
Spät abends brühte sie sich eine Tasse Schlaftee auf, die sie mit einem ordentlichen Schuss Melissengeist würzte. Unvermittelt kam ihr die Erinnerung an den Auftritt der ehemaligen Bibliothekarin während der Weihnachtsfeier in den Sinn, und wie tief kränkend der letzte Teil von Frau Perls Ansprache gewesen war! Und dass man sie bei der großen Familienfeier in Südtirol ganz offensichtlich nicht dabei haben wollte, wo sie doch immer so gut zu den Leuten dort gewesen war. In der kleinen Küche prostete sie mit tränenschwerer Stimme dem über der Eckbank hängenden Portrait ihres Mannes zu: „Gerald, sei froh, dass’d nimmer lebst. Die Leut‘ werden immer boshafter und gehässiger zueinander.“…
… Nach dem Absingen von Weihnachtsliedern durch eine Schar als Engel verkleideten Grundschulkinder, einer kleinen Geschenketombola, und dem Sturm aufs Kuchen- und Plätzchen-Bufett kehrte unter den etwa zwanzig teilweise hoch betagten Gästen im Pfarrhaus Ruhe ein. Gar manchem wurden dank des zur Begrüßung verteilten Gläschens Prosecco und dem Genuss des von der Haushälterin nach ihrem streng gehüteten Geheimrezept gebrauten Punsches die Augen schwer.
Die Tür zum Vorraum ging auf, und herein trat in Begleitung des jungenhaften Pfarrers, dessen Vollmondgesicht irgendwie nicht so recht zu seiner mageren Statur passen wollte, die ehemalige Leiterin der Dorfbücherei, Frau Perl. Flink wie ein Wiesel sprang Frau Kern auf, und bot ihren Platz an: „Was für eine schöne Überraschung! Wir freuen uns alle sehr, Sie zu sehen. Setzen Sie sich doch, ich hole mir einen Stuhl aus dem Büro. Bedienen Sie sich, es ist noch genügend Kuchen und Weihnachtsgebäck, Kaffee, Tee und Punsch da!“
Frau Perl schüttelte den grauhaarigen Kopf. „Nein, danke. Ich bin nicht zum Feiern gekommen.“ Sie stockte. Der Pfarrer reichte ihr ein Glas Wasser und legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. Frau Perl trank in großen Schlucken, sie trat einige Schritte nach vorne an die Stirnseite der mit Tannengrün, bunten Sternchen und Kerzen geschmückten Tafel. Ihre Schultern strafften sich, und all ihre Nervosität und Unsicherheit fielen von ihr ab.
„Ich bin gekommen, um einige Dinge richtig zu stellen. Und um mich zu verabschieden.“
Mit einem Schlag war die traute Seniorenrunde hellwach.
„Man hat mir zugetragen, was hinter meinem Rücken seit einer Weile über mich geredet wird. Es heißt, ich sei eine schwere Alkoholikerin, seit dem Tod meines Mannes sei ich dem Suff ergeben, und würde pro Tag flaschenweise Wein und Schnaps in mich hinein schütten. Das entspricht nicht den Tatsachen. Ich habe noch nie Alkohol getrunken – ich werde davon sterbenskrank… Es heißt auch, dass mir das heimliche Saufen zuhause nicht ausreichen würde, und dass ich mich im Café Bootshaus bei den Asozialen herum treiben würde. – Nach dem Tod meines Mannes und meiner Pensionierung habe ich mich nach einer sinnvollen Aufgabe gesehnt. Ich bin mit den Wirtsleuten vom Bootshaus seit meinen Kindertagen befreundet. Die Beiden veranstalten im Wirtsgarten zweimal pro Woche eine Art Tafel mit Lebensmittelspenden und Hygieneartikeln, damit die oft ohne eigene Schuld arbeitslos gewordenen, armen Dörfler und die Alten, die von ihren mageren Renten nicht leben können, und die Flüchtlinge, die häufig völlig traumatisiert nur mit dem nackten Leben davon gekommen sind, nicht immer mit dem Bus in die Kreisstadt fahren müssen. Sie wissen bestimmt, dass Benni und Ossi, die Zwillinge vom Boothaus, körperlich schwer behindert und halt auch nicht mehr die Jüngsten sind. Die Arbeit mit dem Organisieren der Tafel, dem Betreuen der Bedürftigen und dem Führen des Cafés ist ihnen immer mehr über den Kopf gewachsen. So habe ich ihnen nach und nach einige Pflichten abgenommen. Dazu gehört auch das Entsorgen der leeren Flaschen in den Altglascontainer…“
Sie machte eine kurze Pause. Im Pfarrsaal war es mittlerweile mucksmäuschenstill geworden. Man spielte angelegentlich mit Keksbröseln und Tannennadeln auf den einstmals blütenweißen, nun von Wachs- und Punschflecken verunzierten Tischdecken, um Frau Perls Blicken auszuweichen.
„Ich bin hier geboren worden und aufgewachsen. Hier habe ich geheiratet, eine gute Ehe geführt, habe meinen Sohn aufgezogen und mich all die Jahre glücklich und zufrieden gefühlt. Doch ich möchte auf gar keinem Fall länger in Heubach bleiben. Ich könnte es nicht ertragen, Tag für Tag all jenen zu begegnen, die diese entsetzlichen Gerüchte über mich in die Welt gesetzt und fleißig verbreitet haben. Ich habe mein Haus verkauft, und werde noch vor Weihnachten zu meinem Sohn ziehen.“
Frau Perls folgende Worte waren anscheinend an sämtliche Anwesenden gerichtet, doch während sie sprach, fixierte sie Frau Stegert, auf deren fahle Wangen sich zwei tiefrote Flecken gebildet hatten, und deren glasige Blicke unstet hin und her huschten.
„Mein Sohn hat mir geraten, Anzeige wegen Verleumdung und Rufschädigung zu erstatten. Nach langem Überlegen habe ich mich allerdings dazu durchgerungen, auf dergleichen zu verzichten. – Wissen Sie, ich hasse Sie nicht, ich kann Sie nicht hassen. Ich fühle große Abscheu – aber eigentlich tun Sie mir aus tiefster Seele leid. Was müssen Sie für ein erbärmliches Leben führen, wie dunkel und zerrissen muss es in Ihren Herzen und Ihren Seelen aussehen, dass Sie es nötig haben, solche Lügen über Menschen, die Ihnen noch nie ein Leid zugefügt haben, zu erfinden, und ohne jegliches Hinterfragen diese böswilligen Unterstellungen durch‘s ganze Dorf zu tragen. – Nun möchte ich Ihnen eine schöne Weihnachtszeit wünschen – und mir wünsche ich, dass ich keinen von Ihnen jemals wiedersehen muss.“
Frau Perl wandte sich um, nickte dem Pfarrer kurz zu, und verließ festen und schnellen Schrittes den kleinen Saal…
… Wie stets vielen Dank an @Rina für diese immer schöne und interessante Blogaktion…
Gefreut: Über den ersten Schneefall Freitag Mittag. Wenn die weiße Pracht dann auf den Straßen und Gehwegen liegt, finde ich das nicht mehr so erfreulich, aber der allererste Schnee bezaubert mich stets aufs Neue.
Über eine schöne Nachbarschaftshilfe: Neben dem Waschsalon, in dem es vor gut zwei Wochen gebrannt hatte, befindet sich ein kleines Speiselokal. Und dort dürfen die beiden Jungs von der Wäscherei die unversehrten und gereinigten Textilien aufbewahren, bis sie von den Besitzer:innen abgeholt werden.
Geärgert: Eine ältere Radfahrerin verlor auf ihrem Drahtesel das Gleichgewicht, kippte um, prallte gegen ein nicht sehr gepflegtes Auto älteren Baujahrs und verletzte sich dabei leicht am Daumen. Der Besitzer der Rostlaube, der grad in der Nähe war, machte ein unfassbar großes Gezeter, weil die Radlerin an der Beifahrertür einen winzigen Kratzer hinterlassen hatte. Er wandte sich wohl Sympathie heischend empört an mich, worauf ich ihm barsch entgegnete: „Das Wichtigste ist, dass der Dame nix Schlimmes passiert ist.“, und ihn stehen ließ.
Gedacht: Merzens Fritze ist ja nur noch mehr zum Fremdschämen…
„Ich weiß nicht, wer mehr Lust am Herziehen über die Leute hat: Die Hauptperson oder die Erzählerin.“, hat jemand, der höchstwahrscheinlich noch nie zuvor auf meinem Blog gewesen ist, den ersten Teil meiner Geschichte „Der Altglascontainer“ kommentiert. – Ich muss selbst keine giftige Dorftratsche sein, um über so eine Person eine Erzählung schreiben zu können. Genauso wenig wie man eine Mörderin sein muss, um einen Krimi zu verfassen. Oder eine Astronautin, um einen Roman über ein Weltraumabenteuer in die Tasten zu hauen.
Gefragt: Wie das sein kann, dass ich nun binnen sechs Wochen fast eineinhalb Kilo zugenommen habe?
Gewundert: Ich staune immer wieder darüber, dass ich in der Serie The Good Doctor häufig Gemeinsamkeiten mit dem Verhalten des jungen Chirurgen Shaun Murphy entdecke, obwohl der natürlich viel mehr im autistischen Spektrum steckt als ich. Die medizinischen Fälle sind oft weit hergeholt, und meistens auch nicht sehr realistisch, aber die Darstellung eines Autisten mit Inselbegabung ist schon sehr fundiert und gut umgesetzt.
Genervt: Vom Inneren Schweinehund, der mir jetzt, wo es so kalt und bewölkt ist und schnell finster wird, gar arg zusetzt, doch lieber zuhause in der warmen Bude zu bleiben anstatt nach draußen zu gehen. 😉
Gelitten: An nix, man stelle sich vor!
Gewesen: Viel spazieren, im Lieblings-Discounter, auf dem Bauernmarkt – das Übliche halt.
Getroffen: Die „üblichen Verdächtigen“ – Nachbarn, Bekannte, meine Haushaltshilfe.
Gesucht: Im WWW nach einer schönen neuen Pfeffermühle.
Gefunden: Noch nicht wirklich. Ich werde mal beim Suckfüll vorbei schauen, einem kleinen und fast schon legendären Bau- und Haushaltswarenmarkt in der Türkenstraße.
Gelacht: Oh, ja! 😀 Im vierten Band des Donnerstagsmordclub würzt der Autor Richard Osman mal wieder höchst großzügig die Handlung mit seinem britischen, skurrilen Humor.
Geweint: Ja. In der achten Folge der fünften Staffel von The Good Doctor stirbt ein zu früh geborenes Baby, nachdem es mit einem abgelaufenen Medikament versorgt wurde. Die Verzweiflung des autistischen Chirurgen Shaun Murphy wurde von dem Schauspieler Freddy Highmore so intensiv und überzeugend dargestellt, dass mir das sehr unter die Haut ging.
Gegessen: Gebratene Kalbsleber, fangfrische Forelle, Gnocchi mit Schwammerlsoß, Gnocchi mit geschnetzelter Hühnerbrust, Rosenkohl gedünstet mit Kartoffeln und Spiegelei, Fischeintopf.
Getrunken: Tee, Wasser, Orangensaft.
Genascht: Gewürzspekulatius.
Gehört: Seit gut vierzig Jahren liebe ich diesen Song – und die Pat Metheney Group und David Bowie sowieso! 🙂
Gesehen: Darts Players Championship Finals, einige Folgen The Good Doctor, einige virtuelle Busfahrten durch London, ein paar Naturdokus.
Eine Doku über das mir sehr vertraute Salzburg, mit Besuchen unter anderem bei einem Schirmmacher und im Marionettentheater – schööööön! 🙂
Gelesen: Den vierten Teil des Donnerstagsmordclubs, wieder mal ganz schön schräg, zwerchfellerschütternd, aber teilweise auch traurig.
Und den dreizehnten Band der Chief-Inspector-Gamache-Krimis der kanadischen Autorin Louise Penny.
Gelernt: Wie so oft nix Gscheits. 😉
Gebastelt/Gespielt/Geschrieben: Viel geschrieben, das Wohnzimmer abgestaubt und geputzt.
Gekauft: Was Frau so zum Leben braucht.
Geschenkt/bekommen: Eine gute und unbeschwerte Woche.
Geschlafen: Recht gut.
Geträumt: Ich war auf einer Busreise. Wir machten Halt in einem bezaubernden Städtchen – es könnte Mantua gewesen sein. Der Busfahrer bat mich, einen großen Kupferkessel mit zwei Stückchen Butter einzureiben, er wolle nun seine Cannabis-Bowle brauen. Als ich ihn fragte, ob er das Gras vorher auch geröstet hätte, wies er mich zurecht, ich solle mir meine Besserwisserei abgewöhnen, er mache das nicht zum ersten Mal. Er schüttete mehrere Flaschen einer trüben dunklen Flüssigkeit in den Kessel, rührte um und hieß mich dann probieren. Die Brühe schmeckte wie eine Mischung aus Spezi und Kräutertee, und die Wirkung trat binnen weniger Augenblicke ein. Wie losgelöst tanzte, nein, schwebte ich selig über den großen Stadtplatz und schüttete mich schier aus vor Lachen. – Und dann wurde ich wach.
Geplant: Außer leben und leben lassen nichts Besonderes. 😉
……………………….
Ich wünsche euch einen schönen Sonntag! Habt es fein, seid gut zu euch und zu euren Lieben, und bleibt bzw. werdet gesund.
… Eine Woche später fand die kleine Weihnachtsfeier des Seniorentreffs statt, und Frau Stegert warf sich etwa eine Stunde vor Beginn der Festivität in ihre beste perlmuttfarbene Seidenbluse, die sie mit einer fein ziselierten Brosche in Form einer Silberdistel zierte.
Während der vergangenen Tage hatte sie stets vormittags erwartungsvoll an der Tür gelauert, wenn der drahtige, wettergegerbte Postbote auf seinem voll bepackten, leuchtend gelben Fahrrad sich dem Haus genähert hatte. Vielleicht gab es ja diesmal eine Einladung einer ihrer Töchter, die Feiertage bei deren Familie zu verbringen. Doch ihre Hoffnungen wurden ein ums andere Mal enttäuscht, wie während all der Jahre seit dem Tod ihres Mannes.
Frau Stegert hatte nie einen liebevollen Umgang mit ihren beiden Töchtern gepflegt, es hatte kaum zärtliche Gesten oder offen gezeigte Zuneigung gegeben, kein Gefühl der Vertrautheit und Nähe zwischen Mutter und Kind konnte wegen der körperlichen und subtilen seelischen Gewalt, die sie den Mädchen anzugedeihen pflegte aufkeimen. In einer großen Schar Geschwister war sie während ihrer Kindheit die kleinste und unscheinbarste gewesen, oft von den Brüdern und Schwestern und ihrer Mutter unbeachtet. Sie hatte sich durch keinerlei Begabungen, Schönheit, Fleiß, Güte oder gar Intelligenz hervor getan. Allerdings hatte sie bereits in ziemlich jungen Jahren entdeckt, dass sie sich mittels Lügen, Gerüchten und Intrigen sehr gekonnt in Szene setzen und zumindest für ein Weilchen die Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Wenn um sie herum Zwistigkeiten und Unfrieden sich entluden und Tränen flossen, dann verspürte sie ein seltsames Wohlgefühl, dann fühlte sie sich als Heldin, dazu berufen, zu schlichten und zu befrieden, dann kam sie sich moralisch den anderen haushoch überlegen vor.
Obwohl ihr Mann den Töchtern sehr zugeneigt gewesen war, war er kaum eingeschritten, hatte alles stumm geschehen lassen, nie aufgrund der zweifelhaften Erziehungsmethoden seiner Gemahlin ein Machtwort gesprochen, sich nur selten auf die Seite seiner Sprösslinge gestellt. Seine Frau war sein Ein und Alles, seine große Jugendliebe, die er jahrelang schüchtern aus der Ferne verehrt hatte, ehe er sich, ermutigt durch einige Studienfreunde, ein Herz gefasst hatte, ihr einen Antrag zu machen. Er war Wachs in ihren Händen gewesen und mehr als ein halbes Jahrhundert lang hatte er Augen und Ohren geflissentlich vor ihren menschlichen Defiziten verschlossen.
Die Töchter, Irene und Heidelinde, pflegten für gewöhnlich am Vormittag des Heiligabends für ein knappes Stündchen zusammen mit ihren fast schon erwachsenen Kindern bei Frau Stegert vorbei zu schauen – sie überreichten kleine Geschenke, zwangen sich zu ein wenig neutralem Small Talk, und machten sich dann rasch wieder auf den Rückweg in die Kreisstadt.
Dass sie die Ursache für das unterkühlte Verhalten ihrer Töchter, Schwiegersöhne und Enkelkinder war, war Frau Stegert noch nie in den Sinn gekommen. Sie sah sich als Opfer rücksichtsloser und kaltherziger junger Egoisten. „Keine Dankbarkeit, wissen Sie!“, pflegte sie ihren Mitmenschen bei jeder sich bietenden Gelegenheit vorzujammern. „Man gibt ihnen so viel Liebe, so viel Fürsorge, schlägt sich voller Angst die Nächte um die Ohren, wenn die Kleinen krank sind – und wenn sie dann aus dem Haus sind, kennen sie einen nicht mehr. Ich habe den Beiden so viel gegeben, so viel Herzblut und Aufopferung – und nur Undank und Ignoranz und Gleichgültigkeit bekomme ich nun zurück…“
Sie sah sich selbst als die beste Mutter aller Zeiten, und pflegte ausgesprochen gerne Erziehungstipps zu geben. Neulich erst war sie in der Kreisstadt auf eine junge Frau zugestürmt, die anscheinend ihr weinendes Baby im Kinderwagen nicht beruhigen konnte. „Sie müssen das Kleine an Ihre Brust legen, dann hört es Ihren Herzschlag und hört auf zu schreien. Liebe – was diese kleinen Wesen immerzu und am allernötigsten brauchen, ist LIEBE! Glauben Sie mir, was das anbelangt, bin ich eine Expertin!“, deklamierte sie mit beseelt leuchtenden Augen, und ihr erhobener Zeigefinger verwirbelte die schwer lastende, winterlich feuchte Großstadtluft. Und dann folgte ihr Lieblingssatz, den sie bei solchen Gelegenheiten stets zu zitieren pflegte: „Wissen Sie – einmal Mama, immer Mama.“…
Ein paar letzte Bürstenstriche durch die proper sitzende, rötlichbraun gefärbte Prinz-Eisenherz-Frisur, ein paar dezente Spritzer Eau de Toilette auf den wuchtigen Pelzkragen ihres Wintermantels, dann griff Frau Stegert nach den Hausschlüsseln und einer kleinen Tüte mit den Plätzchen für die weihnachtliche Gebäck- und Kuchentafel, die sie schon Wochen zuvor im Discounter erstanden hatte, und wandte sich zum Gehen Richtung Pfarrhaus…
… Ihren Auftritt im Supermärktchen in der Ortsmitte hatte Frau Stegert sehr sorgfältig geplant, sie wusste genau, wann ihre Bekannten sich zum spätmorgendlichen Einkauf samt ausgiebigem Ratschen zu treffen pflegten. Um sich einen genauen Überblick über die ihrer Meinung nach von Frau Perl konsumierten Mengen Alkohol zu verschaffen, war sie mit Alibi-Mülltütchen und Taschenlampe versehen noch zu den Containern gestiefelt, sobald die frühe winterblasse Dämmerung der klammen Finsternis gewichen war.
„Also, die Frau Perl sauft mindestens eine, meistens sogar zwei Flaschen Wein oder Sekt am Tag. Und dazu noch eine Flasche Schnaps – meistens Williamsbirne.“
Frau Kern, Frau Blatt und Frau Riederer, die „führende Kerntruppe“ des Heubacher Seniorentreffs, ihrer Ansicht nach eindeutig der Prominenz des kleinen Dorfes zugehörig, machten ungläubig große Augen.
„Des gibt‘s ja net! Des kann i mir bei da Frau Perl eigentlich überhaupt net vorstellen.“, wandte Frau Kern, die Pfarrhaushälterin, ein. „Wia ham Sie des denn heraus gefunden?“
Frau Stegert zuckte mit den von einem voluminösen Pelzkragen verdeckten mageren Schultern. „Mei, ich hab‘ sie halt ein paar Mal beim Entsorgen von ihrem Altglas getroffen, wenn ich vom Spazierengehen nach Hause gegangen bin. – Also, drei nicht grade kleine Kisten voll mit leeren Wein-, Sekt- und Schnapsflaschen wirft die Frau Perl schon pro Woche weg. Meistens am Donnerstag.“
Frau Hein, die Leiterin und Kassiererin des kleinen Supermarktes mischte sich ein: „Sie ist heut‘ ganz früh schon da gewesn, hat aber keine alkoholischen Getränke eingekauft, sondern nur etwas Schinken, einen Laib Brot, a Butter und a bisserl Gmias.“
Frau Stegert musterte sie missbilligend mit ihren kleinen, verwaschen grauen Augen und schnappte: „Ja, die wird sich ihren Sprit natürlich heimlich im Discounter in der Kreisstadt besorgen!“
„Und a Fahne hab ich bei ihr auch noch nie gerochen.“
„Da gibt‘s an ganz neuartigen Kaugummi, der sogar ganz starken Mundgeruch vertreiben soll, hab ich vor kurzem erst in einer medizinischen Zeitschrift bei der Frau Dr. Quindt gelesen.“
Das war zwar gelogen, aber Frau Stegert sonnte sich grad so schön im Rampenlicht der Umstehenden, dass sie es auf gar keinem Fall zulassen durfte, dass jemand ihre herrlich skandalöse Geschichte, die sie sich die halbe Nacht lang zurecht gelegt hatte, durch einen Widerspruch entkräften würde.
„Da fällt mir ein, dass ich die Frau Perl schon einige Male unten am See im Café Bootshaus gesehen hab‘, da, wo sich des ganze Gschwerl immer so gern trifft, ihr wisst‘s scho, die Sozialschmarotzer, die Flüchtlinge, die in der Pension Bergblick hausen, und des arbeitsscheue Hartz-Vier-Gesindel…“, flüsterte Frau Blatt und schüttelte über die Maßen betroffen den großen, dezent violett dauergewellten Kopf und in das teigige Gesicht ihrer besten Freundin, der Frau Riederer, gruben sich tiefe Falten des Abscheus und Entsetzens.
„Da langt ihr die heimliche Sauferei dahoam wahrscheinlich net, dass sie sich a no mit dene Falotten vom Bootshaus abgebn muass. – Wia kann so a sympathischer Mensch innerhalb von so kurzer Zeit dermaßen tiaf sinken…“
Frau Kern steuerte resolut mit ihrem Einkaufswagen die Kasse an und während sie ihre Waren auf das Laufband legte, murmelte sie: „Ich glaub, ich muss heut Mittag mal den Herrn Pfarrer auf die Frau Perl aufmerksam machen, dass der vielleicht amal mit ihr redt‘.“
Frau Stegert und die anderen Damen waren noch immer so rege damit beschäftigt, über die frühere Bibliothekarin herzuziehen, dass sie den Abgang der Pfarrhaushälterin überhaupt nicht mitbekamen…
… Eine nicht sehr vorweihnachtliche Geschichte in mehreren Teilen…
Frau Stegert lebte recht komfortabel doch sehr allein in einem kleinen, schmucken Häuschen am südlichen Dorfrand von Heubach, einem Tausend-Seelen-Nest in den oberbayerischen Bergen. Ihr Mann, der bis zu seiner Pensionierung Leiter der örtlichen Sparkassen-Filiale gewesen war, hatte vor gut fünf Jahren nach einem heftigen Schlaganfall das Zeitliche gesegnet. Zu ihren beiden Töchtern und deren Familien, die in der etwa zwanzig Kilometer entfernten Kreisstadt wohnten, hatte sie dank ihres sehr ambivalenten Verhältnisses zur Wahrheit und der unguten Neigung, mittels böser, zumeist selbst erfundener Gerüchte Unfrieden zu stiften, kaum noch Kontakte.
Außer dem Lesen von Magazinen der sogenannten Regenbogenpresse, dem Verfolgen von Klatschsendungen im TV sowie dem eifrigen Kolportieren von gehässigen Tratschereien im Supermärktchen des Ortes, die sehr oft ihren Ursprung im wöchentlichen Seniorentreff im spätbarocken Pfarrhaus der katholischen Kirche hatten, pflegte Frau Stegert kaum Hobbies. Zum Handarbeiten fehlte ihr die Konzentration, und mit der Lektüre von Büchern war sie ihr Lebtag lang, im Gegensatz zu ihren Töchtern, auf Kriegsfuß gestanden.
Gar manchmal wäre ihr also die Zeit in ihrem kleinen, schmucken Häuschen schon arg lang geworden – wenn es da nicht ihren liebsten Zeitvertreib gegeben hätte: Etwa hundert Meter entfernt befanden sich in einer kleinen und von ihrem Anwesen aus leicht einsehbaren Senke die Glas-, Altpapier-, Kunststoff- und Altkleider-Container Heubachs. Mit einem goldgefassten, elfenbeinernen Opernglas bewaffnet, einem Erbstück ihrer Schwiegermutter, verbrachte Frau Stegert viele erbauliche Stunden an ihrem großen Wohnzimmerfenster, bis ins letzte Detail Tag um Tag registrierend, welcher Nachbar was und wann zu entsorgen pflegte, und sich selbstredend geflissentlich Gedanken darüber zu machen. Manchmal begab sie sich nach Einbruch der Dunkelheit mit einem Alibi-Müllbeutelchen, einem Klappschemelchen und einer Taschenlampe versehen zu den Containern, um sich zum Beispiel zu vergewissern, ob der Bauer Lenz vom Alpbichl tatsächlich einen ganzen Schwung an Jeans, die seine Frau erst letzten Sommer in der Kreisstadt erstanden hatte, dem Altkleiderbehälter einverleibt hatte. Und ob der Obst- und Gemüsehändler Heinrich wieder einmal eine ganze Kiste Äpfel in den Biomüll entsorgt hatte, nur weil eine Handvoll davon einige Druckstellen aufgewiesen hatte.
Seit einer geraumen Weile grübelte sie über das Verhalten von Frau Perl, der ehemaligen Leiterin der Dorfbücherei. Deren Mann war vor knapp einem halben Jahr nach langer und schwerer Krankheit entschlafen, eine Gnade sei das für die arme Frau gewesen, darin waren sich alle „Damen“ der gemütlichen wöchentlichen Runde des Seniorentreffs bei Kaffee und selbstgebackener Linzer Torte einig gewesen.
„Jetzt kann‘s endlich wieder anfangen zu leben, die Arme.“, hatte Frau Kneitz, die Haushälterin des Pfarrers, mitfühlend geseufzt, und die Anwesenden hatten ihr eifrig zugestimmt. Selbstredend hatte man Frau Perl nach dem Verstreichen einer mehrwöchigen „Trauerfrist“ immer wieder zu den Veranstaltungen des Seniorentreffs eingeladen, doch nie eine Antwort erhalten, was Frau Kneitz, Frau Stegert und die anderen Teilnehmerinnen durchaus ein wenig verärgerte.
Das kam Frau Stegert in den Sinn, als sie wieder einmal in ihrem höchst bequemen Wohnzimmersessel thronend das edle Opernglas ansetzte und Richtung Müllcontainer spähte. Eben war Frau Perl mit ihrem großen dunkelblauen Kombi heran gefahren, sie öffnete den Laderaum und hievte mehrere Holzkisten heraus, die randvoll mit Wein-, Sekt- und Spirituosenflaschen gefüllt waren.
„Koa Wunda, dass die sich nia bei uns im Seniorentreff blicken lässt! Des is a heimliche Säuferin! Und was für oane, die muaß ja mindestens zwoa Flaschn Wein und a Flaschn Schnaps am Tag saufn!“, grummelte Frau Stegert. Voller Vorfreude und Eifer fieberte sie dem nächsten Tag entgegen, da würde sie all ihren Bekannten im kleinen Supermärktchen ihre Erkenntnis mitteilen. Und genießen, dass sie endlich wieder einmal im Mittelpunkt des dörflichen Interesses stand. Denn es mangelte ihrer Meinung nach schon sehr seit dem Tode ihres gutmütigen und stets freundlichen Mannes an der gebührenden respektvollen und bewundernden, beständigen Aufmerksamkeit ihr gegenüber…
… ist eine Ausstellung des franco-mexikanischen Künstlers Miguel Chevalier, der weltweit als Pionier der digitalen und virtuellen Kunst gilt. Zu sehen sind die spektakulären Werke noch bis Anfang März in der Kunsthalle München…
… Ich greife auf den erklärenden Text der Veranstalter zurück, die können das weitaus besser formulieren als ich als olle Kunstbanausin:… 😉
Mit Digital by Nature präsentiert die Kunsthalle München die bislang größte Einzelausstellung von Miguel Chevalier in Europa. Seit den 1980er-Jahren nutzt der Künstler den Computer als kreatives Medium und setzt dafür neue Technologien ein – bis hin zu Künstlicher Intelligenz (KI). Sein Werk steht zugleich im kontinuierlichen Dialog mit der Kunst- und Kulturgeschichte. Auch wenn es im Digitalen wurzelt, bleibt die sinnliche Erfahrung im realen Raum ein unverzichtbarer Bestandteil von Miguel Chevaliers Arbeit.
Die Ausstellung vereint rund 120 Werke aus allen Schaffensphasen des Künstlers, darunter mehrere eigens für die Präsentation in der Kunsthalle München entstandene Arbeiten. Zu sehen sind Skulpturen und Zeichnungen, die mithilfe von 3D-Druck und Robotik realisiert werden, ebenso wie Videos und Installationen. In diesen generativen Raumerlebnissen erzeugen Algorithmen fortlaufend neue Bilder, mit denen Besucherinnen und Besucher durch ihre Bewegungen interagieren können.
Ein besonderes Highlight ist In Vitro Pixel Flowers: Hier haben Erwachsene und Kinder Gelegenheit, online und vor Ort mit virtuellen Blumen zu experimentieren, die anschließend in einem digitalen Gewächshaus im Ausstellungsraum erblühen. Ergänzt wird die Schau durch eine Auswahl naturhistorischer Objekte – von komplexen Kristallen bis zu Aufnahmen von Unterwasserlebewesen. So entsteht ein nicht nur vielschichtiges, sondern auch physisches und emotionales Erlebnis – eine Einladung zum Beobachten, Mitmachen und Staunen.
… Die Ausstellung umfasst nur einige kleinere Säle – und doch kann man Stunden damit verbringen, sich von dem ständigen Wechsel und Wirbel von Formen, Farben, Strukturen bannen, verzaubern und manchmal schier hypnotisieren zu lassen. Der Künstler bezieht jeweils den ganzen Raum inklusive Boden und Publikum in seine Projektionen mit ein, die oft auf faszinierende Weise auf Vorübergehende und Gestikulierende reagieren, strudeln, explodieren, in sich zusammenfallen, sich neu gruppieren. Beim Dasitzen und Staunen habe ich mich immer wieder gefragt: Monsieur Chevalier, wie haben Sie das gemacht? Wie funktioniert das? Was steckt dahinter?…
… Einige bebilderte Eindrücke – beim nächsten Besuch werde ich filmen, das habe ich mir schon fest vorgenommen, denn mit bewegten Bildern kann man die Kunst Chevaliers viel besser veranschaulichen…
… Am 19. November 1946 startete eine zweimotorige Douglas C-53 vom US-Militärflugplatz Tulln bei Wien Richtung Marseille. An Bord befanden sich vier Besatzungsmitglieder und acht Passagiere, einige davon waren hochrangige Militärs. Nach einer Zwischenlandung in München entschied sich der Pilot, Ralph Tate Jr., wegen starker nordwestlicher Winde für eine Änderung der Flugroute via Innsbruck/Brenner. Über Innsbruck wechselte er die Richtung erneut und flog nun westwärts. Nebel kam auf, die Sicht verschlechterte sich zusehends, Tate kreiste dann über Chur, um sich neu zu orientieren. Die Flughöhe betrug 3.350 Meter, es herrschten heftige Turbulenzen und Fallwinde…
… Um 14:25 setzte die Maschine hart mit ca. 280 km/h auf dem Gauligletscher unweit von Grindelwald auf. Sie schlitterte über Schnee und Eis und zwischen zwei tief klaffenden Gletscherspalten noch eine Weile bergauf, bevor sie unweit einer dritten zum Halten kam. Wie durch ein Wunder überlebten alle Insassen, es gab lediglich einige leichte Blessuren, nur eine Person wurde schwer verletzt…
… Nach zwei Tagen wurde die Douglas C-53 zufällig von einem Passagier einer in ca. 5.000 Metern Höhe fliegenden Boeing B-29 und den Piloten eines Aufklärungsflugzeugs der Schweizer Luftwaffe während eines Überflugs gesichtet. Man war bislang davon ausgegangen, dass die vermisste Maschine, deren Pilot zwei Notrufe absetzen konnte, unweit des Mont Blanc niedergegangen war, und hatte dort eine große Suchaktion gestartet, an der sich ca. 80 Flugzeuge beteiligt hatten…
… Es begann die bis dahin größte Rettungsaktion in den Alpen. Die Amerikaner schickten aus Tarvisio, im italienisch-österreichisch-slowenischen Dreiländereck gelegen, einen Sonderzug mit 150 Gebirgsjägern der 88. US-Division mit Ambulanzwägen, Jeeps und Weasels – ungepanzerte Vollkettenfahrzeuge – durch den Simplontunnel, doch die Einheit war unzureichend auf eine Gebirgsrettung bei Schnee, Eis und schlechtem Wetter vorbereitet. Man warf über dem Wrack Hilfspakete ab, die jedoch großenteils in den Gletscherspalten landeten. Nachdem ein Sack Kohle eine Tragfläche getroffen hatte, bat Ralph Tate Jr. mit einer in den Schnee getrampelten Botschaft darum, die Abwürfe einzustellen…
… Am 23. November 1946 erreichten zwei Mitglieder einer Rettungskolonne, die vom Dorf Rosenlaui aufgebrochen war, auf Skiern nach einem dreizehnstündigen Marsch die Verunglückten. Für eine Rückkehr war es zu spät, die Helfer zu sehr geschwächt. Erst am Morgen danach begann der Abstieg Richtung Gaulihütte. Kurz vor 10:30 gelang es Piloten der Schweizer Luftwaffe mit zwei mit Kufen ausgerüsteten, einmotorigen Maschinen vom Typ Fieseler Storch, die über einen hervorragenden Gleitwinkel verfügten und extrem langsam fliegen konnten, auf dem Gletscherplateau zu landen. Mit neun Flügen konnten die Verunglückten ins Tal gebracht werden. Diese Aktion gilt als Geburtsstunde der alpinen Flugrettung…
… Im Laufe der Jahre versank das Wrack der Douglas C-53 in Schnee und Eis. Seit 2012 werden aufgrund des rasanten Gletscherschwunds immer mehr Teile davon sichtbar. Man geht davon aus, dass die Maschine in den nächsten Jahren wieder komplett an die Gletscheroberfläsche gelangen wird…