… gehört zu den Hauptattraktionen des Berchtesgadener Landes. So gleiten Jahr für Jahr Gäste aus aller Welt in den lautlosen Elektrobooten über den dunkelgrünen, fjordähnlichen See, um andächtig zu lauschen, wenn eines der Besatzungsmitglieder zum Waldhorn greift und die silberhelle Melodie mehrfach vom himmelhoch ragenden Fels der bis ans Wasser reichenden Berge zurückgeworfen wird und durch das enge Tal hallt. Als Einleitung zu dieser Besonderheit sind oft scherzhafte Sprüche zu hören wie „Jetzt wollen wir alle hoffen, dass unser Spezl, der da oben in ein einer der kleinen Höhlen hockt, auch richtig zurückbläst. Nicht, dass wir uns vor Ihnen blamieren.“ Niemand dachte sich je etwas dabei. Wirklich niemand. Außer einem…
… Der Sennbichler galt als eine originelle Mischung aus Genie und Gaudibursch. Es gab kaum ein Musikinstrument, das er nicht beherrschte und auch mal auf ungewohnte Weise nutzte, indem er zum Beispiel Choräle von Bach auf der Mundharmonika zum Besten gab oder Verdis Gefangenenchor auf einer Okarina (Tonflöte mit gewölbtem Bauch) intonierte – wohlgemerkt aus dem Gedächtnis und wahrhaft meisterlich. Er arbeitete beim hiesigen E-Werk und nach Feierabend ließ er sich gern an einem der Stammtische in unserer „Bergwirtschaft“ nieder, um voller Genuss einige Bier zu trinken und uns mit seinen Schrullen und gar herrlichen Witzen zu unterhalten. Außerdem war er ein echter Bergfex, der oft Tage fernab der Zivilisation in den zerklüfteten, unwirtlichen und auch gefahrvollen Gebirgsregionen verbrachte. Kein Steiglein, Pfad oder Grat waren ihm fremd, mochten sie auch noch so verborgen und entlegen sein. Als sich diese Geschichte hier zutrug, ist er wohl Mitte Dreißig gewesen, mit einem freundlichen, offenen Gesicht und schmalen, veilchenblauen Augen, die stets ein bisserl leuchteten und funkelten, als habe sich ein Körnchen Sternenstaub darin versteckt…
… An einem backofenheißen Sonntagnachmittag zog langsam eines der vielen Elektroboote seine friedliche Spur Richtung Seemitte. Der Schiffsführer stoppte die leis schnurrende Maschine, der Kontrolleur, zugleich auch Bordmusiker, erhob sich und machte per Mikrophon die einleitende Erklärung. Über hundert Gesichter waren ihm blütengleich erwartungsvoll zugewandt, man konnte förmlich die Ohren sich spitzen sehen. Der Künstler klappte ein Köfferchen auf und holte das blank polierte Waldhorn hervor. Still dümpelte die „Unterstein“ auf der nahezu spiegelglatten, tiefgrünen Wasserfläche. Die ersten Takte der schlichten aber anrührenden Weise erklangen. Gespanntes Schweigen folgte…
… Und dann – oh, Himmel, hilf! – schallte es unfassbar schrill und unharmonisch aus der schroffen, nahezu lotrechten Echowand zurück! Dem Musikus traten schier die Augen aus den Höhlen und sein Unterkiefer klappte herab. Er vernahm Getuschel und sein Adamsapfel vollführte einen wahren Veitstanz. Erneut hub er an, um den zweiten Teil der kleinen Melodie zu blasen. Und wieder der gleiche, unfassbare Spuk! Grauenhafte Dissonanzen schmetterten über den See, brachen sich an den Felswänden, Schroffen und Gipfeln! Das Gewispere steigerte sich zum unheilvollen Raunen. Der Waldhorn-Solist war mittlerweile grünlich-weiß im Gesicht und wäre am liebsten über Bord gesprungen…
… Im entgegen kommenden Boot, welches sich nach vollbrachter Rundfahrt zurück zur Seelände schob, reckten sich neugierig die Hälse. Ein Einheimischer, auf dem Heimweg von seiner morgendlichen Bergtour, setzte seinen Feldstecher an. „Ja, da schau her! Der Sennbichler, der verrückte Hund, hockt da droben in der Echowand!“
… Inzwischen wagte man auf der „Unterstein“ verzagt einen dritten Versuch. Mit demselben niederschmetternden Ergebnis wie zuvor. Den glockenklaren, verständlicherweis etwas zittrigen Kadenzen wurden mit dem hysterischen Trompeten einer missgestimmten Elefantenherde geantwortet. Schleunigst legte der Schiffsführer den Gang ein und verließ die Stätte der Schmach. Der völlig entnervte Interpret warf kopfschüttelnd einen traurig stierenden Blick in sein leeres Dienstkapperl, in dem sich normalerweise das Trinkgeld nur so häufen müsste. Er war mit der Welt am Ende…
… Dieser Streich wäre mit Sicherheit als witzige und kühne Eulenspiegelei, zum Besten gegeben an bierseligen Stammtischen ringsum, im Sande verlaufen, wenn, ja, wenn nicht an Bord der „Unterstein“ ein Reporter jener Tageszeitung mit den vier Buchstaben gewesen wäre. Noch am selben Nachmittag hängte er sich ans Telefon und kontaktierte seine Redaktion in München…
… Bereits am nächsten Morgen war es an allen Zeitungsständen in dicken Lettern zu lesen: „B…-Mitarbeiter entlarvt Königssee-Echo als Schwindel! Exklusivbericht!“ Die Obermuftis der Staatlichen Seenschifffahrt fühlten sich durch den sicher nicht bös gemeinten Lausbubenstreich des Sennbichlers, aufgebauscht durch den auf übelste Weise reisserischen Artikel, gewaltig auf den Schlips getreten, und schalteten ihren Rechtsbeistand ein. Es kam zum Prozess wegen groben Unfugs, Verleumdung und Ruf- sowie Geschäftsschädigung. Angeklagt war der Sennbichler, hirn- und charakterlose Tratschmäuler hatten ihn verpfiffen, der wüste Schreiberling hatte sich auf undurchsichtige Weise aus der Affäre ziehen können. Ein Mitarbeiter des Gerichts, der oft zum Mittagessen bei uns einkehrte, prahlte, der Schriftsatz des Verfahrens sei so voluminös gewesen wie der Roman „Vom Winde verweht“. Das ist ganz sicher übertrieben. Aber ein sehr bekannter Anwalt, der ansonsten hartgesottene Schwerverbrecher zu vertreten pflegte, nahm sich des Sennbichlers an. So wurde die Anklage erfolgreich abgeschmettert…
… Sympathieträger war natürlich unser schlitzohriges Musikgenie, das seinen Status als schrägster Vogel des Landkreises sehr genoss – und auch jenen Vorteil, der ihm aus der Geschichte erwuchs: An allen Stammtischen wurde er lange Jahre frei gehalten…
… Die Obermuftis der Staatlichen Seenschifffahrt entschuldigten sich irgendwann beim Sennbichler und machten ihren Frieden mit ihm. Denn da jetzt jeder selber nachschauen wollte, ob das Echo vom Königssee nun wirklich nur eine Schummelei oder doch echt ist, durfte man sich in diesem und dem folgenden Jahr an geradezu traumhaften Umsatzrekorden erfreuen…
… Und grade habe ich die Interpretation von Mozarts kleine Nachtmusik im Ohr, ganz weich und federleicht gespielt vom Sennbichler auf seiner Klarinette…