… Mein Beitrag für @Myriades Impulswerkstatt…
… Der künstliche Pferdekopf drückte unangenehm gegen jene Stelle ihrer Wange, auf die ihr Mann am vorherigen Abend wieder einmal wie ungezählte Male zuvor den Abdruck seiner geballten Faust hinterlassen hatte. Ihr Kopf schmerzte, ihr war schwindlig und das Atmen fiel ihr schwer. Und doch griff sie beherzt und scheinbar unbeschwert in die Tasten und Knöpfe ihres Akkordeons, und entlockte ihm eine mitreissende Variation des Protestliedes „Bella Ciao“…
… An diesem Vormittag spielte sie voller Hoffnung und Zuversicht und Vorfreude. Nur noch dieser eine Tag als maskierte Straßenmusikerin in der Fußgängerzone und sie konnte ihren seit einer gefühlten Ewigkeit gehegten Traum verwirklichen. Während ihre Finger automatisch das Instrument zum Klingen brachten, dachte sie an den kleinen, randvoll mit Scheinen gefüllten Tesor im Schuppen ihrer benachbarten Freundin. Dort verbarg sie auch stets den Pferdekopf, den schwarzen Anzug, das Akkordeon und die blank polierten Herrenschuhe. Und die Schlüssel für den zum Campervan umgerüsteten, alten VW-Bulli, ihrem Fluchtwagen…
… Seit drei Jahren schon führte sie dieses Doppelleben. Jeden Morgen, wenn ihr Peiniger sie einsperrend die Haustür krachend hinter sich zufallen hatte lassen, erledigte sie in Windeseile den Haushalt, dann öffnete sie mit einem heimlich nachgemachten Zweitschlüssel die Hintertür, schlüpfte durch die Hecke nach nebenan, stopfte ihre Maskerade in einen großen Rucksack, nahm den Instrumentenkoffer an sich und fuhr mit dem Bus in die Innenstadt. Das Akkordeon beherrschte sie seit ihren frühen Kindertagen, ihr Vater war ihr ein geduldiger und inspirierender Lehrer gewesen. Ihr Meisterstück war eine selbst verfasste Bearbeitung der Toccata und Fuge in D-Moll von Johann Sebastian Bach, die das Publikum stets zu Stürmen der Begeisterung hinriss. Nicht nur Silbermünzen landeten nach dieser Darbietung zuhauf in dem kleinen Körbchen zu ihren Füßen…
… Mit zitternden Fingern tauschte sie einige Stunden später ihre „Gage“ an einem Bankschalter in große Scheine um. Das Blut dröhnte und rauschte in ihren Ohren, ihr Herz vollführte einen irrsinnigen Trommelwirbel. Sie hatte es geschafft! Sie war nach einem schier endlosen Martyrium endlich frei! Wie auf Flügeln eilte sie heimwärts, entsorgte unterwegs ihre Maskerade in einem Müllcontainer. Ihre treue, fürsorgliche Freundin half ihr beim Koffer packen, sprach ihr immer wieder Mut zu. Als ihre Habseligkeiten im Bulli verstaut waren, nahmen die beiden Frauen in einer innigen Umarmung Abschied voneinander. Sie würden mittels Wegwerfhandys Kontakt zueinander halten…
… Mit geschlossenen Augen ließ sie den Campervan an, lauschte eine Weile dem satten, unverkennbaren Motorengeräusch, dann gab sie sanft Gas und fuhr los…
… Kommt gut und möglichst unbeschwert in die neue Woche, ihr Lieben!…