Marthas Momente-Sammlung

Glück ist die Summe schöner Momente

Der Jungfernflug (Teil 2)…

… Nach einer ausgedehnten und sehr feucht-fröhlichen Freiflug-Feier am Abend zuvor, die wieder einmal bis in die frühen Morgenstunden gedauert hatte, durfte ich den ganzen langen Tag über lediglich die Schulmaschinen mit den sogenannten Lepos, den Rückholfahrzeugen, von der Landebahn zum Startplatz bugsieren und dort durch zu checken. Nicht ein einziges Mal hatte mich mein Fluglehrer Max aufgefordert, mit ihm eine Übungsrunde zu drehen, obwohl er doch wissen musste, dass ich so danach lechzte, in den makellosen Sommerhimmel aufzusteigen…

… Lustlos die Schultern hängen lassend überprüfte ich zusammen mit einem quirligen und lustigen Mitschüler die Funktionen der ASK 13, einem schon etwas betagten, orangefarbenen Doppelsitzer. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Max quer über den üppigen, sommerlich grünen Rasen des Flugfeldes schlenderte, ich blickte bitterlich enttäuscht gar nicht mehr auf, als er näher kam. Er verzog das wettergegerbte, markante Gesicht zu seinem typischen lausbubenhaften Grinsen und klopfte mir mit einem Zwinkern seiner tiefblauen Augen auf die Schulter. „Marsch, hol‘ dir deine Gewichte. Wenn du in einer Minute noch nicht im Cockpit sitzt, ziehe ich dir die Ohren lang!“

… Als „leichtes Mädchen“ – ich wog damals grade mal fünfundfünfzig Kilo auf gut ein Meter siebzig Körpergröße – musste ich bei jedem Flug schwere Bleiplatten mitnehmen, damit sich die Maschine richtig trimmen ließ. Zusammen mit meinem Kumpel zog ich die ASK 13 in Startposition, wuchtete das Blei auf den Vordersitz, zwängte mich in die enge Kanzel und machte einen letzten Check…

… Das Rückholfahrzeug mit dem zweitausend Meter langen Stahlseil der Motorwinde donnerte in einer Staubwolke näher. Max stieg hinter mir ein. Ich gurtete mich an und schloss die Plexiglaskuppel der Kabine, das Windenseil wurde in die Schwerkraftkupplung an der Unterseite des Segelfliegers eingeklinkt. Der Starthelfer hob die linke Tragfläche, um uns waagrecht zu stellen…

… Max winkte ab, öffnete das Cockpit, schlängelte sich aus dem Sitz und versetzte mir einen kleinen Knuff auf die Wange. „Hals- und Beinbruch, Mädel.“ Ich schluckte verdutzt, hatte aber keine Gelegenheit, mir Gedanken zu machen, das Kabinendach wurde wieder geschlossen, der Startposten streckte bereits den Arm in die Höhe. „Fertig!“ Er senkte die Linke waagrecht. „Seil straff!“ Es gab einen leichten Ruck, als die Trosse von der Winde gespannt wurde. „Start frei!“…

… Kurz schrammte der Bauch des Flugzeugs über die Betonpiste. Dann befreite es sich vom Boden. Ich zog den Steuerknüppel an. Beinahe senkrecht ging es mit gut fünfzehn Metern in der Sekunde himmelwärts. Der Höhenmesser kreiselte. Leichter Seitenwind von Backbord, ich hielt sachte mit dem Ruder dagegen, damit ich nicht abdriftete…

… Der Höhenmesser zeigte vierhundertachtzig Meter über Grund. Die ASK 13 lag nun waagerecht. Ein metallisches Klicken, das Zugseil löste sich. Und nun verspürte ich einen Anflug von Panik. Hilfe! Ich bin völlig allein hier oben! Kalter Schweiß machte meine Handflächen klamm und feucht. Krampfhaft umklammerte ich den Steuerknüppel und starrte wie ein verschrecktes Kaninchen stur geradeaus. In jenen Sekunden bereute ich es ungemein, mich jemals in ein Segelflugzeug gesetzt zu haben…

… Max meldete sich mit ganz ruhiger Stimme: „Dreizehnachtundvierzig (die Kennziffer der Schulmaschine), der Start war gut. Beim nächsten Mal ziehst das Höhenruder aber nicht ganz so abrupt an. – Na, wie fühlst‘ dich?“ Ich brachte nur ein heiseres Krächzehn zustande. „Das sieht nach einem schönen Flug aus, Mädel.“ Ah, seine Worte waren wie Balsam! „Du fliegst jetzt bis zur Achenbrücke, wie bei jeder Übungsrunde. Und wenn du über ihr bist, dann machst‘ eine Backbordkurve um neunzig Grad. Verstanden?“ – „Okay.“…

… Ich fixierte die winzig kleine Brücke unter mir, gab sehr gefühlvoll Seiten- und Querruder, stützte etwas mit dem Höhenruder und glitt in einen perfekt gezirkelten Linksbogen. „Fein. Jetzt fliegst‘ geradeaus zur Gärtnerei, und machst dann eine zweite Neunzig-Grad-Kurve nach Backbord. Alles klar?“ – „Yepp!“ – „Und – wie fühlst‘ dich jetzt?“ Ich holte tief Luft und der große Knoten aus Furcht, Überraschung und Unsicherheit, der sich in meinen Eingeweiden zusammengeballt hatte, löste sich auf und wich der Euphorie. „Großartig geht’s mir!“…

… Hurra, ich fliege, ich schwebe, allein! Ach, wie inbrünstig hatte ich während all der vergangenen Wochen, die mit Unterricht, Platzrunden, Feiern, Hingabe, Leidenschaft randvoll angefüllt gewesen waren, dieses wundervolle Erlebnis herbei gesehnt!…

… Viel zu schnell kam die Gärtnerei in Sicht. Nun war bereits die Hälfte der Übungsrunde vorbei. „Dreizehnachtundvierzig, jetzt fliegst‘ bis zu unserem Grillplatz, und dort kreist du dann deine Höhe ab, bis auf zweihundert Meter. – Was zeigt dein Höhenmesser?“ – „Vierhundertachtzig – und steigend!“ Meine Begeisterung kannte keine Grenzen mehr – mein Jungfernflug – und ich hatte Thermik!…

… Sanft ging’s aufwärts. Ein kurzes Ruckeln, als eine kleine Turbulenz mich erfasste. Es störte mich nicht in meiner Euphorie. Ich verschmolz förmlich mit dem Flugzeug, es waren nicht länger Tragflächen aus Kunststoff und Holz, es waren meine Schwingen, wie ein Adler kam ich mir vor, auf dem Rücken des Windes reitend…

… Wie winzig klein doch die Welt da unten wirkte! Und was für ein Anblick sich mir darbot! Zwischen den beiden Hügelrücken rechts von mir schimmerte die spiegelglatte Fläche des Chiemsee schiefergrau im Licht der tief stehenden Sonne. Zum Greifen nahe schienen die Berggipfel ringsum – die Schroffen und Zacken der Kampenwand, der langgezogene Grat des Hochgern, die Kegel des Geigelsteins, der rundliche Buckel des Hausbergs. Und darüber die unendliche Weite des makellos blauen Sommerhimmels. Könnte ich doch nur die Nase meiner ASK 13 hoch ziehen, bis das tiefe, seidige, verlockende Blau dem unergründlichen Schwarz des Alls weichen und die Sterne mich grüßen würden. Könnte ich doch nur ewig so schweben!…

… Bei fünfhundertzehn Metern blieb der Höhenmesser stehen, vorbei war’s mit der Thermik. Ausgelassen Reinhard Meys wunderschönen Fliegersong trällernd zirkelte ich eine saubere Acht nach der anderen. Gemächlich ging’s tiefer…

… „Dreizehnachtundvierzig – wie schaut’s aus?“ – „Bestens. Bin auf Zweihundert.“ – „Gut. Jetzt fliegst du zum Steinbruch, und machst dann eine Backbordwende um hundertsiebzig Grad.“…

… Nur wenig später lag die Landebahn vor mir. Meine Jubelstimmung verflüchtigte sich, denn Start und Landung sind die schwierigsten Manöver beim Fliegen. Ich umklammerte den Steuerknüppel fester. Über dem Steinbruch herrschten Seitenwinde und böige Strudel und rüttelten mich unsanft durch. Ich lenkte energisch dagegen. Jetzt ja nicht die Nerven verlieren!…

… „Fahr‘ die Sturzflugbremsen aus.“ Ich betätigte den Hebel für die Landeklappen und senkte die Nase der Maschine leicht. „Wie schnell bist du?“ – „Hundert KmH.“ – „Okay.“…

… Das darf nicht wahr sein, ich komm‘ zu kurz! Ohne Zögern fuhr ich die Klappen wieder ein. „Was machst du da?“ – „Ich bin zu knapp dran.“…

… Ich deutete Max‘ Schweigen als Zusimmung. Einige Augenblicke später setzte ich erneut die Sturzflugbremsen ein, einem Gefühl folgend, das aus dem Hosenboden stammte, einem der wichtigsten Organe beim Segelfliegen. Ich sah den Grasboden der Landepiste auf mich zu rasen. Als ich mich in gleicher Höhe mit dem Flachdach des linkerhand liegenden Hangars befand – etwa drei Meter über der Erde – zog ich den Steuerknüppel ganz sanft an. Das Flugzeug wurde langsamer, reckte den Bug, nur wenig später setzte ich sacht auf und rutschte noch etwas auf dem dichten Rasen dahin. Ich war heil gelandet…

… „Meinen herzlichen Glückwunsch zum Jungfernflug, Mädel! Hast dich wacker gehalten. Ich bin stolz auf dich!“…

… Ich tat einen triumphierenden Jubelschrei, schnallte mich los und stieg aus. Liebkosend fuhr ich mit der Rechten über die schimmernde Tragfläche, dann reckte ich mich und blickte zurück in den Himmel, jeder Zoll eine stolze Fliegerin…

… Natürlich folgte am Abend eine höchst ausgelassene und mehr als feucht-fröhliche Feier an unserem Grill- und Lagerfeuerplatz. Und ich bin jetzt beim Schreiben wieder am Steuerknüppel der guten alten ASK 13 gesessen – der erste Alleinflug bleibt auf ewig unvergessen…


27 Antworten zu “Der Jungfernflug (Teil 2)…”

  1. Tolle Geschichte. Ich habe auf den Schlußsatz gewartet …. dann wurde ich wach, ein wenig gerädert, aber es war ein schöner Traum. Der Satz kam aber nicht. Doch kein Traum? Aber sicher ein traumhaftes Erlebnis. WOW …

  2. Da bin ich nun wirklich wieder mitgeflogen. Bei mir wars zwar ein Motorflugzeug, aber der erste Alleinflug ist mir auch bis heute in Erinnerung. Das Gefühl, den Platz wieder zu sehen und eine gute Landung hinzulegen werde ich nie vergessen.

  3. Mein Kommentar ist wohl futsch… das liest sich ja regelrecht spannend 🙂 Ich wäre vor Angst gestorben. Aber ich kann mir vorstellen, das es ein unvergessliches Erlebnis war.

    • Fliegen macht nach wie vor keine Angst. Aber auf einem Turm, wie dem Münchner Olympiaturm, da ist mir zumindest in den ersten Minuten schummrig zumute. 😉 Mein Lieblingsonkel – leider viel zu früh verstorben – der mir die Leidenschaft zur Fliegerei vermittelt hatte, war in seinem Motorsegler in der Luft zuhause wie ein Fisch im Wasser – und wenn er Seilbahn fahren musste, musste er mit geschlossenen Augen auf dem Boden der Kabine kauern, weil er es sonst vor Angst nicht ertragen hätte. 😉

  4. Mit großem Vergnügen las ich diesen Bericht von Deinem Jungfernflug auf dem Segelflugzeug. Das muß ein grandioses Gefühl sein, dann auch gleich noch einen Aufwind oder ne Thermik zu finden. Und ich kann nachvollziehen, wie Dir da der Hintern auf Grundeis ging beim ersten Landeanflug. Aber Du hast ja ne Bilderbuchlandung hingelegt. Das sind eben auch Dinge, die frau zeitlebens nicht vergißt. Und das ist gut so. Danke, daß Du mich auf Deinen Erstflug mitgenommen hast. Und ganz liebe Grüße aus dem pommerschen Plattland vom ollen grauen Wolf.

    • Nein, einen Alleinflug vergisst man/frau nie wieder. Auch wenn die Erinnerungen an jene schöne, wilde, aufregende Zeit erst jetzt wieder so richtig in mein Gedächtnis zurück gekehrt sind, als ich zufällig unter einem Wust uralter Dokumente das Foto von mir ausgegraben hatte. 😉
      Herzliche Grüße!

  5. dann stell dir mal vor wie es dir ginge, wenn du am münchner olympiaturm stehen würdest, und der dreimal so hoch wäre und du da stehst ohne schützendes gitter davor!
    so ungefähr wäre mein gefühl in deinem segelflieger! 🙂
    das hast du ganz alleine geschafft- unglaublich toll!
    ich bin ängstlich beim fliegen und umso mehr bewundere ich dich, was du da geschafft hast bei deinem ersten alleinflug!
    das mußte eine tolle zeit in deinem leben gewesen sein und du hast denen ersten alleinflug wunderbar beschrieben, man ist richtig live dabei! dankeschön.

    • Unsere Fluglehrer haben oft betont, dass das Gefährlichste am Segelfliegen die Auto- bzw. Radfahrt vom Hotel zum Flugplatz sei. 😉
      Na ja, ich hatte schon sehr gute Ausbilder, und die ruhige Art meines Lehrers hat viel dazu beigetragen, dass ich diesen Alleinflug so gut gemeistert hatte, und so viel Freude dabei empfinden konnte. 😉
      Ich danke dir, liebe Christine, und wünsche dir einen schönen Tag!

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