Das missmutige, zerfurchte Gesicht des Kleinen wurde noch vergrämter, so beschloss ich klugerweise, einzulenken und mich zu entschuldigen.
„Es tut mir leid. Ich verspreche Ihnen, dass ich mich ab jetzt beherrschen und respektvoller verhalten werde. – Übrigens, ich heiße Benni – und Sie?“
Tiefdunkle Blicke schienen sich bis in das Innerste meiner Seele zu bohren. Eine kleine Ewigkeit schlich dahin, bevor das Männchen sich einen Ruck gab und mir brummelnd antwortete: „Caspisian.“
„Ein schöner Name.“, lobte ich, und freute mich darüber, dass meine Worte dem Zwerg sichtlich wohl taten. Wer weiß, wann er das letzte Mal ein Kompliment zu hören bekommen hatte… Er packte mich am Arm und zog mich mit sich, auf das Ende des gläsernen Trichters in der Mitte der Kuppel zu.
„Komm, jetzt zeig‘ ich dir ein paar literarische Zeitspannen, die sich über Nacht angesammelt haben.“
Unter der Trichtermündung erhob sich ein hölzernes Podest mit mehreren Stufen, halbmondförmig eingerahmt von gut mannshohen Regalen, in denen verschlossene, leere, durchsichtige Gefäße aller Größen standen. Etwas mühevoll erklomm Caspisian das Podest und deutete eifrig auf einige seltsame Gebilde, die am Boden der gläsernen Röhre zu erkennen waren. Neugierig presste ich meine Nase gegen die Trichterwand.
Ich hatte mir in meiner Phantasie alles Mögliche vorgestellt, aber dass Zeit so aussehen könnte, wäre mir nie im Leben in den Sinn gekommen. Die einzelnen Segmente – ein besserer Ausdruck fällt mir nicht ein – glichen irgendwie Seifenblasen, durchscheinend, mit einer sanft in allen Regenbogenfarben schillernden Haut. Sie schienen lebendig zu sein, bewegten sich träge, wuchsen mal in die Länge, ballten sich dann wieder zu Kugeln zusammen. Es wirkte, als würde sich eine leicht pulsierende, gallertartige Masse in ihrem Inneren befinden.
Der Gnom entnahm einer Innentasche seines Fracks eine unförmige Brille mit sehr dicken Gläsern und setzte sie auf. Konzentriert betrachtete er die eigenartigen Gebilde vor sich.
„Hmmm, ja… Die kleinen Zeitkapseln, die in der Nacht eingetroffen sind, stammen unter anderem von einer deutschen Schriftstellerin, ihre bayrischen Krimis verkaufen sich sehr gut – sie überspringt in ihren Romanen immer nur wenige Stunden oder Tage.“ Er deutete auf eine größere „Seifenblase“. „Ein amerikanischer Autor, der grade an einer mehrere Generationen überspannenden Familiengeschichte schreibt – als ob es nicht schon mehr als genug davon geben würde.“
„Sie sehen das durch Ihre Brille?“
„So ist es. Ist eine Spezialanfertigung, es heißt, sie sei vom Großen Gnuff persönlich für mich gemacht worden.“
„Und diese Zeiteinheiten müssen Sie jetzt aus dem Trichter nehmen und verstauen?“
„Die großen schon, ja. Die kleinen esse ich.“
Ich fühlte, wie mir sämtliche Gesichtszüge entgleisten. Das wird ja immer schräger, verflixt noch eins! Jetzt behauptete der Kerl doch glatt, dass man Zeit essen kann! Schief lächelnd schüttelte ich den Kopf. „Ach, kommen Sie, Caspisian, jetzt veralbern Sie mich aber schon ganz ordentlich!“
Anstatt mir zu antworten, beugte der Zwerg sich vor, öffnete den Auslass des Trichters, nahm eine der kleinen, durchscheinenden, schillernden Kugeln in die Hand, führte sie zum Mund und kaute genussvoll. Er schluckte, und wies mit der Rechten auf die Zeitblasen.
„Du kannst ruhig mal eine probieren. – Du hast dich vorhin ja darüber gewundert, warum ich trotz meiner zweihundert Jahre noch relativ jung aussehe – hier ist das Geheimnis: Die Zeitkapseln wirken verjüngend.“
Fortsetzung folgt!
