Sie stieg die schmalen Stufen hinab und verschloss die Türe ihres Wohnwagens, der als letzter in einer Reihe ähnlicher Fahrzeuge auf dem lang gezogenen, durch eine übermannshohe Hecke vor der Hauptstraße abgegrenzten Parkplatz stand. In früheren Jahren mochte das ungepflegt wuchernde Gestrüpp angelegt worden sein, um dem tristen Grau des Mittleren Rings einen Hauch von Natur zu verleihen, mittlerweile diente es als Abschirmung des „Nuttendorfes“, wie der Ort abschätzig genannt wurde.
Sie ließ den Schlüsselbund in die Tasche ihres braunen Mantels mit schwarzem Kunstpelzkragen gleiten und suchte sich, mühsam auf den hohen Absätzen ihrer Lederstiefel balancierend, einen Weg durch das Labyrinth der Schlaglöcher, Ölreste schillerten darin als wären sie vom Himmel gefallene Regenbogen. Es war keine gute Nacht gewesen, nur wenige unfreundliche Freier, und ihr war das Herz schwer wie stets an solchen Morgen, wenn es den Anschein hatte, der Tag habe Angst davor zu erwachen. Die Tatsache, dass das Alter unbarmherzig Besitz von ihr ergriff, dass ihr Gesicht, ihr Leib, ihr Sein unaufhaltsam verfielen und sich nach einem schier sinnlosen Lebensweg voller Einsamkeit in eine Handvoll Staub und modernde Knochen auflösen würden, schnürte ihr die Kehle ab und ließ sie nach Atem ringen.
Sie wandte sich stadteinwärts. Dort, hinter den hohen Türmen einer hastig hingeklotzten Neubausiedlung wusste sie ein kleines, warmes Cafe und die Sehnsucht nach einer dampfend heissen Tasse Kaffee und dem einzigen Zeitvertreib, der die dunklen Schatten auf ihrer Seele ein wenig lindern konnte, ließen ihre Schritte zügiger werden.
Endlich zogen sich die düsteren Fratzen der Nacht zurück, der klebrige Morgennebel löste sich in im Spiel einer leichten kühlen Brise umher trudelnde Fetzen auf, im Osten glomm ein zaghafter silberner Schimmer und versprach die lang erwartete Wetterbesserung.
Sie stieß die dunkel gebeizte Schwingtür des kleinen Etablissements auf und trat langsam ein, vorsichtig und mit gesenktem Kopf unter ihren Wimpern hindurch das Terrain sondierend. Sie hoffte, niemandem von ihrer „Kundschaft“ zu begegnen und hatte Glück. Die Lastwagenfahrer und Rangierer des unweit gelegenen Güterbahnhofs hatten diese anheimelnde Oase inmitten der desillusionierenden Sozial- und Industriebautenwüste zu ihrem Treff auserkoren, viele der kleinen, mit Intarsien verzierten Holztische waren bereits besetzt und drei junge Bedienungen schleppten Berge von Eiergerichten, Süßspeisen und belegten Broten zu den Gästen. Sie tastete sich durch das Getümmel zu einer im Halbdunkel gelegenen Nische, die sich in unmittelbarer Nähe der Toiletten befand und daher meist verschmäht wurde. Sogleich kam eines der Mädchen herbei und erkundigte sich nach ihrer Bestellung. Sie nahm den Duft eines frühlingshaften Parfüms wahr und die Ausstrahlung von Jugend, Frische und Elan traf sie so hart, dass ihr die Tränen in die Augen sprangen. Sie schüttelte mit einer ungehaltenen Kopfbewegung das Haar aus der Stirn, orderte schroffer als gewollt einen großen Milchkaffee und ein Croissant und ergriff aufseufzend die lang ersehnte Zuflucht, den kleinen Zeichenblock und den Kohlestift in ihrer Handtasche. Als ihr Frühstück serviert wurde, hatte sie bereits mit kühnen Strichen die Bedienung skizziert und gab sich nun Mühe, deren reines, herzförmiges Gesicht auszuarbeiten.
Neben ihr entstand Bewegung, ein Räuspern und eine nicht unangenehme Männerstimme fragte leis: „Entschuldigen Sie, ist dieser Platz noch frei?“ Unwillig blickte sie auf in ein Paar große, türkisfarbene Augen, die in eine Landschaft liebenswerter Lachfältchen gebettet waren. Der Fremde zuckte lässig mit den Schultern. „Es tut mir leid, Sie zu stören, aber sehen Sie, hier ist der einzige freie Stuhl und ich habe die ganze Nacht durchgearbeitet und bin schier am Verhungern.“ Sie nickte frostig und wies neben sich. Der Mann ließ sich aufseufzend nieder und sie fuhr fort in ihrem Tun und ihrer abweisenden Zurückgezogenheit und nahm ihn nur am Rande wahr. Wie ihr schien, war er nicht sehr groß, hager, er trug ein grünblau kariertes Holzfällerhemd, das ihm zerknittert über die ausgebleichte Jeans hing. Sein blondes Haar war recht lang und gewellt, es fiel über den Kragen und im diffusen Schimmer der Nische glommen vereinzelt silberne Strähnen. Sein Mund wurde teilweise von einem kühn geschwungenen Schnauzer verborgen. Er hatte sich ein sogenanntes Trucker-Frühstück bestellt, Spiegeleier mit krossem Speck und Bratkartoffeln und der jungenhafte Eifer, mit welchem er schnell aber ohne Gier das Essen in sich hinein schaufelte und der Ausdruck des Genusses auf seinen ausdrucksstarken Zügen durchdrang ihre Abwehr ein wenig.
Er wischte sich mit der Serviette sorgsam Mund und Schnauzer ab und lehnte sich, den Stuhl auf die Hinterbeine kippend, zurück an die mit Schrammen und Kratzern vernarbte, dunkel holzverkleidete Wand. Er nahm das frühmorgendliche Treiben ringsum in sich auf, als sei das Cafe eine Bühne und er das im Schatten geborgene Publikum. Sie vollendete mit ein paar verwischten Schraffierungen ihr Werk. Er beugte sich mit hochgezogenen Augenbrauen zu ihr hin. „Sie zeichnen? Ich will mich nicht aufdrängen, aber darf ich mal einen Blick darauf werfen?“
Sie sah ihn zum ersten Mal voll an und gewahrte sein Äußeres – und mehr noch, eine starke Ausstrahlung von Stärke, innerem Frieden und Aufgeräumtheit, die Aura eines Menschen, der in sich ruht und im Reinen ist. Spontan reichte sie ihm den Block. Er nahm sich viel Zeit, betrachtete jede einzelne der kleinen Skizzen, blätterte völlig versunken vor und zurück. Sie schlug die Beine übereinander und kreuzte die Arme vor der Brust, senkte die Wimpern, um ihre Augen zu verbergen und setzte einen blasierten Gesichtsausdruck auf, sich wappnend gegen einen abfälligen Kommentar.
„Haben Sie beruflich mit Kunst zu tun?“ Sie verneinte und nannte ihren früheren Broterwerb. „Sie haben ein beachtliches Talent und sollten unbedingt mehr daraus machen. Traurig, dass jemand mit Ihrer Gabe in einem Büro versauern soll für den Rest des Lebens. Sie könnten weiß Gott einen anderen Weg einschlagen, glauben Sie mir.“ – „Woher…“ – „Ich bin Kunstmaler. Eine Galerie hier in der Nähe zeigt in Kürze eine Auswahl meiner Bilder und ich war mit dem Besitzer die ganze Nacht auf den Beinen, um das Aufhängen und Ausleuchten zu arrangieren.“ Er suchte mit der Linken in seiner Hemdtasche und fand schließlich auflächelnd eine elfenbeinfarbene, mit schwungvollen Buchstaben bedruckte Visitenkarte, die er vor ihr auf den kleinen Tisch legte. „Die Adresse eines meiner besten Freunde. Er leitet eine Kunstakademie und hat sich mit seiner unkonventionellen Suche nach Talenten einen Namen gemacht. Wenn Sie sich dort vorstellen und sagen, dass Sie auf meine Empfehlung kommen, bin ich sicher, dass er Sie unter seine Fittiche nimmt.“
Sie bohrte ihren Blick in das kleine papierene Viereck und es schien ihr wie das Tor zu einer anderen Welt. Das Cafe leerte sich, zwischen den kantigen Gipfeln der Hochhäuser war die Sonne aufgegangen und ihre strahlenden Tentakel tasteten sich träge durch die staubige Luft. Er angelte nach ihrem Kohlestift und schrieb schwungvoll seinen Namen auf die Rückseite des Kärtchens. Seine Tischnachbarin schüttelte den Kopf. „Ich habe noch nie von Ihnen gehört, tut mir leid.“ Er lachte stillvergnügt auf. „Das nehme ich Ihnen wirklich nicht übel, ich bin hierzulande noch sehr unbekannt, ich bin als Student in die USA ausgewandert und erst vor kurzem wieder nach Deutschland zurück gekehrt.“
Er bat die Kellnerin um einen weiteren Becher Kaffee und begann zu erzählen, von seiner Kindheit in einer unsteten, aber liebevollen und liebenswerten Großfamilie, Künstler, Musiker und Akrobaten, und etwas verschroben und voll der Wanderslust, von seinem Studium, den Demos und Diskussionen, seiner „Flucht“ in die Staaten, weil er „keinen Bock hatte, sich dem deutschen Spießertum anzupassen“, seinen von Neugierde und Rastlosigkeit geprägten Reisen durch ein schier unermesslich weites Land… Und sie lauschte, gebannt von der Kraft und dem stillen Feuer seiner beinahe grünen Augen und ihr war, als würde die Zeit mit all ihrem Elend um diese Nische in diesem kleinen Vorstadt-Cafe einen Bogen schlagen, sein Wesen, sein direkter Blick, die Art zu sprechen, die Bilder, die er herauf beschwor, wie er mit den kräftigen, langfingrigen Händen gestikulierte, der leichte Geruch nach durchwachter Nacht und Männerschweiß hüllte sie ein, löschte all ihre Selbstzweifel und die Furcht vor dem nahen Alter oder einem Tod in Einsamkeit und der Ekel über das unwürdige Dasein, welches sie führte. Er schien ihre Gesellschaft zu genießen, schien sich daran zu erfreuen, eine gute Zuhörerin gefunden zu haben und das leise Glück, das sie aufkeimen fühlte, weil da endlich ein Mann war, der sie als Mensch schätzte und nicht als Ding abtat, welches man nach Gebrauch achtlos und beschmutzt zurück ließ, wandelte sich in ein derart tiefes Empfinden, wie sie es seit vielen Jahren nicht mehr verspürt hatte. Ihr Herz pochte süß und sanft ziehend bis in die Fingerspitzen, und trotz der unübersehbaren Runen in ihrem Gesicht kam sie sich vor wie ein Backfisch. Während sie gefesselt lauschte und nur ab und an eine kurze Zwischenfrage einwarf, träumte ein Teil ihrer Seele davon, den Rest ihrer Tage mit diesem Manne zu verbringen, an seiner Seite glücklich zu werden, glücklich und stark, eine große, echte, unzerstörbare Liebe zu leben…
Eine Pause entstand, in welcher Beide mit den Augen dem ebenmässigen Verlauf der Einlegarbeit des Tischchens folgten. Er griff nach ihrer Hand und drückte sie leicht. „Danke, dass Sie mir so viel Ihrer Zeit schenken. Ich kann nicht sagen, wann ich mich das letzte Mal so gut unterhalten und wohl gefühlt hab. Sie sind der wunderschöne Ausklang einer nervenzerfetzenden Nacht.“ Oh, so gerne, jeder Moment mit dir ist so wertvoll!, dachte sie und der Atem stockte ihr, weil die Wärme seiner Berührung ihr durch Mark und Bein fuhr… In seiner Brusttasche klingelte ein Handy, er griff danach und meldete sich. „Meine Frau.“, warf er ihr erläuternd zu und sein von den Runen der Müdigkeit gezeichnetes Antlitz wurde weich. Er erhob sich und tat ein paar Schritte beiseite. Sie vernahm einen Kosenamen und eine anrührende Vertrautheit und Innigkeit in seiner Stimme. Der Traum zerbarst und die abrupte Rückkehr in die Realität traf sie wie ein Hieb. Trostlosigkeit, Kälte, Ablehnung, Angst, Verliebtheit, Hoffnung, Enttäuschung – so viele Gefühle in solch kurzer Zeit waren unmöglich zu ertragen. Sie musste fort! Sie zahlte, stand unbemerkt auf und floh dem Ausgang zu, Wehmut und Herzeleid griffen mit scharfen Klauen nach ihr. Und dennoch verspürte sie Dankbarkeit in sich aufkeimen, als sie sich an der Tür noch einmal nach ihm umwandte, der lachend, mit leuchtenden Augen einen imaginären Punkt fixierend völlig in das Telefongespräch vertieft war. Er hatte ihr die Pforte zum Leben aufgetan, eine neue Hoffnung – und sie würde wie eine Löwin darum kämpfen, das Beste daraus zu machen!
Sie ließ sich am nahen Taxistand in den Fond des einzigen wartenden Wagens fallen, nannte dem gelangweilt Kaugummi kauenden Fahrer die Adresse ihrer kleinen Wohnung und zog aus ihrer Handtasche müde lächelnd die kleine, elfenbeinfarbene Visitenkarte…