Er zählte nebst einer erklecklichen Anzahl Astronauten – vorne weg selbstredend Armstrong, Aldrin und Collins – und Entdeckern, wie zum Beispiel James Cook oder Magellan, Freibeutern wie Sir Francis Drake, Flugpionieren, ich erwähne hier lediglich Charles Lindbergh, zu den Helden meiner Jugend. Er wurde am 6. Oktober 1914 (ein Waage-Mensch gleich mir!) in Larvik, Norwegen geboren, studierte in Oslo Zoologie und Geographie und bildete sich in Anthropologie weiter. Er gilt als Begründer der experimentellen Archäologie.
Während einer Expedition im Jahre 1940 ins Bella-Coola Tal – in British Columbia, Kanada, gelegen – fielen ihm die Übereinstimmungen von Felszeichnungen, Steinäxten, Götterfiguren, ja, auch der typischen, menschlichen Physiognomien mit polynesischen Artefakten und Grabfunden auf. Er stellte fest, daß der Philippinenstrom von Asien Richtung Nordwestamerika verläuft und dann nach Hawaii und Polynesien abbiegt, auch der Passatwind weht von Nordamerika in die Südsee. Heyerdahl stellte die These auf, daß es möglich wäre, auf einem Boot von Amerika nach Polynesien zu gelangen.
Er bewies dies mit seiner Expedition 1947 auf dem Balsaholzfloss „Kon Tiki“, die etliche Monate dauernde Fahrt auf einer nach altertümlichen Vorlagen an der Küste Südamerikas konstruierten „Nußschale“, an deren Bord sich als einziges modernes Zubehör Funkgeräte befanden, sorgte seinerzeit für enormes Aufsehen. Der dabei entstandene Dokumentarfilm wurde mit einem Oskar ausgezeichnet. – Und gut zwanzig Jahre später verschlang ich atemlos und heißhungrig das Buch über jene Reise, welches mir mein Vater gegeben hatte. Ich wurde durch die packende Schilderung förmlich in dieses Abenteuer mit hinein gezogen, kämpfte mit turmhohen Brechern, verspeiste fliegende Fische, litt unter der stechend heißen Sonne, ging über Bord und erlebte Todesängste und weinte Tränen der Freude und Erleichterung, als meine bloßen Füße endlich, endlich in der Sanftheit eines gleißenden Südseestrandes versanken… Thor Heyerdahl hatte damit eindringlich bewiesen, daß die Besiedelung Ozeaniens und Polynesiens durchaus vom amerikanischen Kontinent aus stattgefunden haben könnte. Sehr bemerkenswert fand ich auch, daß sich unter der sechsköpfigen Besatzung der „Kon Tiki“ ein deutschstämmiger Wissenschaftler befunden hatte – und dies beinahe unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg.
Mittels eines umgestalteten Ozeanfrachters und begleitet von seiner zweiten Frau, sowie den beiden Kindern und etlichen Forschern reiste er Mitte der Fünfziger zur Osterinsel. Dort untermauerte er anhand einer Schilfart, welche sowohl in Mittelamerika, als auch auf dem abgeschiedenen Eiland vorkommt, erneut seine Theorie von einer Besiedelung und Kultivierung des Pazifiks vom amerikanischen Kontinent aus. – Für mich als Teenager war auch dieses Buch, in dem er seine Erlebnisse und Erkenntnisse mittels eines fesselnden, sehr lebendigen und auch humorvollen Erzählstils festhielt, regelrecht berauschend. Zusammen mit diesem meinem Helden kroch ich durch die atemberaubend engen Höhlen, künstlich angelegten Röhren und Gängen einiger Einheimischer bis zu den tief im Fels verborgenen Ruhestätten ihrer Ahnen, verspeiste zusammen gekauert in drangvoller Enge das rituelle Huhn, ich schwitzte beim Bearbeiten einer der rätselhaften, kolossalen Felsstatuen, einem halbfertigen Moai, mit einem schlichten Faustkeil und ließ mir während ausgelassenen Galoppierens über das Weideland der Insel die salzgeschwängerte Brise des nahen Pazifiks um die Nase wehen…
1969 versuchte Heyerdahl mithilfe einer ebenfalls internationalen Crew, mit dem nach ägyptisch-phönizischem Vorbild entworfenen Papyrusboot „Ra I“ von Marokko aus den Atlantik zu überqueren. Die Paralellen zwischen den Überbleibseln der einstmals blühenden Kulturvölker Mittel- und Südamerikas und den Ägyptern sind sogar für einen Laien auffallend. Der norwegische Wissenschafts-Abenteurer wollte mit dieser ungewöhnlichen Expedition beweisen, daß die Ägypter sehr wohl zu einer Atlantik-Passage fähig gewesen wären. Die Reise nahm unweit Kubas ein Ende, da das Heck von „Ra I“ zunehmends unter Wasser geriet (Während der Überfahrt hatte man das Tau gekappt, welches den hoch aufragenden, gewölbten „Achtersteven“ mit dem „Rumpf“ verband. Damit hatte das Papyrusboot enorm an Stabilität verloren). Ein Jahr darauf ließ sich Heyerdahl von Indios, welche am Titicaca-See beheimatet sind, die „Ra II“ konstruieren, drei Meter kürzer und wesentlich stabiler gearbeitet. Er stach zusammen mit seiner Mannschaft von Tanger aus am 17. Mai 1970 in See und erreichte am 12. Juli Barbados. Die während beider Fahrten entstandenen Filmaufnahmen dokumentieren erstmalig eine starke Verschmutzung des Atlantiks. – Das Buch „Expedition Ra“ glich bei mir einem Suchtfaktor. Mein Vater hatte es seinerzeit zum Geburtstag geschenkt bekommen. Ich glaube nicht, daß ich es ihm jemals zurück gegeben habe…
… Bereits im fortgeschrittenen Alter gründete Thor Heyerdahl auf den Kanarischen Inseln ein spanisch-norwegisches, archäologisches Projekt, mit dessen Hilfe er die Stufenpyramiden von Guimar (Teneriffa) weltweit bekannt machte. Obwohl eindeutige Forschungsergebnisse belegten, daß die Entstehung dieser Pyramiden zweifelsfrei ins neunzehnte Jahrhundert datiert werden konnte, ließ der norwegische Forscher bis zuletzt nicht von seiner These einer vorchristlichen Besiedelung der Kanaren durch Ägypter beziehungsweise Phönizier ab.
Im Frühling des Jahres 2002 starb Thor Heyerdahl in Colla Micheri, Italien. Egal, ob er letztendlich mit seinen Theorien Recht behalten hatte oder nicht, ihm gelang auf eine beispielhafte und fesselnde Art und Weise, Wissenschaft und Forschung vom Staub und Mief stickiger Hörsäle und Laboratorien zu befreien, er fügte einen ganz gehörigen Hauch Abenteuer, eine unentbehrliche Prise Wagemut, sowie Kühnheit hinzu.
Mich reut es bisweilen, daß ich in diesem Leben nicht mehr die Gelegenheit haben werde, einige ganz besondere Menschen kennen lernen zu dürfen: Mahatma Gandhi, Herrman Hesse, C. G. Jung – und Thor Heyerdahl. Ich bin sehr sicher, daß wir uns ausnehmend gut verstanden hätten…
