… Dort bin ich am Mittwoch Nachmittag nach einer schönen Zugfahrt gelandet…
… Den Ort am Fuße des Karwendels gibt es bereits seit der Römerzeit, die Via Raetia, die wichtigste Verbindungsstraße vom Römischen Reich in den Süden Deutschlands, führte durch die einstmals sich dort befindende Station Scrabia. Im Jahre 1096 wird Mittenwald zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Im Mittelalter war der Ort ein wichtiger Warenumschlagplatz auf der Handelsroute zwischen Venedig und Augsburg, die umgebenden Wälder lieferten das Holz für das blühende Flößerhandwerk, welches von zwanzig Flößermeistern und zahlreichen Gesellen ausgeübt worden war. Zwischen Ende des fünfzehnten und Ende des siebzehnten Jahrhunderts wurde aufgrund des lange schwelenden Krieges mit Venedig der Bozener Markt nach Mittenwald verlegt. Neue Gewerbe entwickelten sich, so die Borten- und Filetseidenstickerei, sowie der Geigenbau. Der Ort ist nach wie vor eines der bedeutendsten Zentren für Streich- und Zupfinstrumentenbau in Deutschland, auch wenn mittlerweile der Tourismus die Haupteinnahmequelle darstellt…
… Mittenwald weist nicht nur eine lange und interessante Geschichte auf, hier wird auch in Vollendung die wundervolle Tradition der Lüftlmalerei gepflegt, eine kunstvolle, farbenfrohe und sehr beeindruckende Form der Fassadengestaltung. So nahm ich mir einige schöne und lange Stunden Zeit, durch die Straßen und Gassen zu schlendern und ausgiebig zu schauen und zu staunen, und mich an den großenteils prachtvollen Malereien zu erfreuen…
… für eine neue Runde Zug-Roulette wurde, begab ich mich am Mittwoch zum Hauptbahnhof, und hatte dort grade noch genug Zeit, in einem der vorderen Waggons jenes Zuges, der als erstes abfahren würde, ein gemütliches Plätzchen zu finden, bevor er sich in Bewegung setzte. Es ging wieder einmal gen Süden, durch das Alpenvorland, direkt auf die hochragende Gipfelkette der Nordalpen zu…
… Nach knapp eineinhalb Stunden hatte ich die Qual der Wahl: Aussteigen, und einen bislang unbekannten Ort erkunden, in den hinteren Zugteil wechseln, und auf einen See sowie einen gewaltigen Bergstock zusteuern, oder sitzen bleiben, und durch ein Dorf spazieren, das ich vor gut zwanzig Jahren einmal flüchtig im Vorbeifahren gesehen hatte. Nach einigen Minuten abwägen entschloss ich mich für letzteres…
… Nach etwa zweistündiger, sehr beschaulicher Fahrt – manchmal entstand der Eindruck, man könne durchaus neben dem Zug spazieren und Blumen pflücken – war Füssen erreicht. Eigentlich war ich schon dabei, mich der Stadtmitte zuzuwenden, doch dann sah ich auf dem Vorplatz einen großen roten Nahverkehrsbus stehen – der würde laut Leuchtschrift auf der Stirnseite nach Garmisch fahren. Eigentlich könnte ich da ja mal nachfragen, welche Buslinie zur Wieskirche fährt, jene weltberühmte bayerische Barockkirche im Alpenvorland…
… So marschierte ich hin und sprach mit dem Fahrer, einem sehr freundlichen und zuvorkommenden Griechen, und der gab mir die Auskunft, dass die Wies auf seinem Weg liegen würde. Ach, was soll’s, dachte ich mir, Füssen läuft mir nicht weg, das kann ich mir ein andermal auch anschauen, und stieg ein…
… Der Bus der Linie 9606 gondelte an den beiden Schlössern Hohenschwangau und Neuschwanstein vorbei, kurvte gemächlich durch manchmal sehr kleine, und gelegentlich etwas größere Ortschaften, und setzte mich nach etwa einer dreiviertel Stunde am Parkplatz nahe dem stattlichen, hoch aufragenden Gotteshaus ab. Direkt vor meiner Nase befand sich der Fahrplanaushang, und blitzschnell erkannte ich, dass dieser Bus an diesem Sonntag die letzte Möglichkeit für mich sein würde, von hier auch wieder wegzukommen – Abfahrt Richtung Garmisch in zwei Minuten – es ist halt noch Vorsaison, und da werden nahverkehrstechnisch am Sonntag auf dem Land um fünf Uhr nachmittags die Gehsteige hochgeklappt. So schnell ich konnte, enterte ich erneut die Linie 9606, ich nahm mir nicht einmal die Zeit, ein Foto von der Wieskirche zu machen. – Nun gut, dann fahr ich halt mit nach Garmisch, das letzte Mal, dass ich dort gewesen bin, liegt schon so lange zurück, dass ich mich gar nicht mehr daran erinnern kann…
… Weiter ging die Reise, hügelauf, hügelab, kreuz und quer durch das sanft geschwungene Voralpenland. Wir passierten Ortschaften wie Steingaden, Bad Kohlgrub, Saulgrub, Oberau, Unterammergau, Oberammergau, Ettal, Farchant, in den meisten drehten wir eine Runde, um mehrere Haltestellen abzuklappern. Ich hatte meine helle Freude dabei, und durfte sehr viel Interessantes und auch Schönes entdecken, so manches habe ich mir in der Denkbirne abgespeichert, um mir das irgendwann einmal genauer anzusehen…
… Gegen halb sieben Uhr abends ragte die kühne und steile Silhouette der Zugspitze vor mir auf, Deutschlands höchster Berg (bzw. Gipfel, denn die Hälfte des Berges liegt bekanntermaßen in Österreich 😉 ), es gelang mir, ein Bild davon zu machen, obwohl der Sonnenuntergang schon eine Weile vorbei war, und grad im sich bewegenden Bus die Lichtbedingungen alles andere als optimal. Im Garmisch-Partenkirchener Bahnhof hatte ich, während ich ein halbes Stünderl auf den Zug Richtung München wartete, die Wahl, mir für mein knapp bemessenes Reisebudget eine Brotzeit zu kaufen oder ein Buch – ich entschied mich für letzteres, und erstand „Winterkartoffelknödel“, der erste Band der Niederbayern-Krimiserie von Rita Falk, und hatte viel Freude und Kurzweil beim Schmökern…
… Müde aber glücklich kehrte ich nach insgesamt gut sechs Stunden Reise mit Bahn und Bus in meine kleine, warme Bude zurück. Und nahm mir fest vor, so bald als möglich wieder Zug-Roulette zu spielen… 😉
… Wenn man aufgrund einer ernsthaften, sehr seltenen und immer noch rätselhaften Erkrankung einen nicht unerheblichen Teil seiner ursprünglichen Beweglichkeit einbüsst, und als körperlich Schwerbehinderte eingestuft wird, gibt es zwei Möglichkeiten, darauf zu reagieren: Entweder man hadert mit dem Schicksal, fühlt sich von diesem höchst ungerecht behandelt, kapselt sich ab, wird verbittert und depressiv, oder aber man setzt sich mit diesem Ungemach auseinander, akzeptiert es, versucht, das Beste daraus zu machen, und die Situation mit Humor zu nehmen. Dafür habe ich mich entschlossen, und das behagt mir, denn ich darf aufgrund dessen immer wieder die Feststellung machen, dass das Leben auch einer Behinderten noch viel Freude bereiten kann…
… Ein Schwerbehindertenausweis hat nicht nur den Vorteil, dass es Preisermäßigungen bei vielen kulturellen Einrichtungen etc. gibt, sondern auch, dass man mittels eines sogenannten Beiblatts, das pro Jahr achtzig Euro kostet, so gut wie kostenfrei sämtliche öffentliche Verkehrsmittel und Nahverkehrszüge der Bahn, des Meridian und des ALEX nutzen darf. So beschloss ich, mir einen seit vielen, vielen Jahren schon gehegten Wunschtraum zu erfüllen, und kreierte kurzerhand ein neues Hobby: das Zug-Roulette = zum Hauptbahnhof pilgern und in den erstbesten Zug einsteigen, der abfährt…
… Gestern war die Premiere meiner neuen Leidenschaft, als ich kurz vor zwei Uhr nachmittags an diesem wundervollen Vorfrühlings-Sonntag am Bahnhof eintraf, hatte ich grade noch Zeit, vor der Abfahrt in zwei Minuten im Zug meiner Wahl einen Waggon zu entern und mir ein gemütliches Plätzchen zu suchen. Die Reise ging nach: Füssen, ein kleines Städtchen am Lech, südwestlich von München, und vor allem für seine Nähe zu den beiden weltberühmten Schlössern Neuschwanstein und Hohenschwangau berühmt…
… Noch präsentierte sich das Alpenvorland recht winterlich. Die Bahn passierte die Erzabtei St. Ottilien, einen meiner Lieblings-Kraftorte, obwohl ich nicht christlich bin, ein schönes kleines Barockkircherl nahe Kaufering, und wandte sich dann allmählich gen Süden. Nach Kaufbeuren hatte sich die etwas diesige Luft geklärt, und die Bergkette der Nordalpen präsentierte sich in voller Pracht und Herrlichkeit…
… Füssen war mir vor eineinhalb Jahren schon bei einem herbstlichen Ausflug an den Alpsee sehr angenehm aufgefallen, und ich hatte bereits damals beschlossen, diesem Ort mehr Aufmerksamkeit zu widmen, und nicht noch einmal einfach nur hindurch zu fahren. Aber – erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Und davon erzähle ich morgen… 😉
Benediktiner-Erzabtei St. Ottilien
Barockkircherl St. Leonhard
Von ferne grüßt das Märchenschloss Neuschwanstein
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