Langsam und leise trat ich näher – da schreckte der Zwerg hoch und riss die schwarzen, riesigen Augen auf.
Nachdem er sich den Schlaf aus den Augenwinkeln gerieben hatte, musterte er mich neugierig und griesgrämig von meinem unordentlich zerwühlten Schopf bis zu den nicht grade sauberen Laufschuhen.
„Wer bist du und was willst du hier?“
Verlegen trat ich von einem Fuß auf den anderen und zuckte mit den Schultern.
„Ich habe einen Morgenspaziergang gemacht, bin auf diese Allee und diesen Prachtbau hier gestoßen – beides habe ich noch nie zuvor gesehen, obwohl ich schon so lange in dieser Stadt lebe. Und da bin ich neugierig geworden, und wollte mich ganz einfach mal umsehen…“ Ich verstummte, verlegen geworden. Der Zwerg besah sich angelegentlich seinen alten Frack, zupfte hier und da ein Staubkörnchen weg, und murmelte: „Scheint so, als wärst du aus der Nebenwelt hierher gelangt.“
„Nebenwelt?“, echote ich dümmlich. Irgendwie schien ich ganz gehörig auf der Leitung zu stehen.
Mein Gegenüber zuckte blasiert die Schultern, stand auf, dehnte und streckte sich, nach einem herzhaften Gähnen wandte er sich wieder mir zu.
„Die Sinne von euch Menschen sind im Grunde genommen bemitleidenswert schlecht. Ihr nehmt seit jeher nur einen Bruchteil dessen wahr, was in Wirklichkeit rings um euch existiert. So entgeht euch, dass neben jener Welt, die ihr so gut zu kennen glaubt, noch etliche andere vorhanden sind. Und manchmal gerät halt der eine oder andere von euch in eine der Nebenwelten.“
Mir wurden die Knie weich, ich musste mich an der Schreibtischkante abstützen.
„Bin ich jetzt etwa gestorben? Wie komm ich denn wieder in meine Welt zurück?“, lallte ich – der Schock hatte meine Zunge gelähmt.
Wieder ein Schulterzucken. „Nein, nein, du bist nicht tot. Früher oder später wirst du schon irgendwie zurück gelangen, mach dir da jetzt keine zu großen Gedanken. Bis jetzt ist jeder, der sich hierher verirrt hat, irgendwann wieder in seiner Welt gelandet.“
Ich fühlte große Erleichterung. Mein Gesprächspartner nahm kurz den Zylinder ab und kratzte sich den Schädel, der mit dichtem, gewelltem, feuerrotem Haar bedeckt war. „Nun – da du jetzt hier bist, und deine Wissbegierde dich den ganzen weiten Weg hat laufen lassen: Was willst du wissen?“
Ich holte tief Luft und machte mit der Rechten eine ausladende Gebärde. „Dieses riesige Gebäude – was ist das? Eine Kirche?“
Der Zwerg lachte schallend. „Eine Kirche! Ach, du liebes Universum, nein, nein, dies hier ist ganz sicher keine Kirche! So was haben wir hier in der Nebenwelt nicht nötig, das kann ich dir versichern!“
„Eine Bibliothek? Ein Bahnhof? Ein Kaufhaus?“
„Falsch, falsch, falsch. – Nein – dies hier ist die LiZAS, die Literarische Zeiterfassungs- und Aufbewahrungsstelle.“
„Davon habe ich noch nie etwas gehört, gesehen oder gelesen. Können Sie mir das bitte näher erklären?“
Das Männlein zog einen gewaltigen Schlüsselbund aus der Hosentasche, und während er sprach, wandte er sich der vor uns aufragenden, schweren und hohen Tür zu. „Du kennst doch Bücher?“
„Na, klar! Ich liebe Lesen, ich wohne sozusagen in einer eigenen kleinen Bibliothek!“
„Dann weißt du ja auch, dass viele Autoren in ihren Romanen, Gedichten, Erzählungen häufig Zeitspannen überspringen, manchmal nur einige Stunden oder Tage, manchmal Wochen, Monate oder Jahre.“
Ich nickte eifrig. „Oh, ja!“
„Hast du dich schon mal gefragt, was mit all diesen Zeiten geschieht, die von den schreibenden Menschen übersprungen werden?“
Heiliger Strohsack, in welch verrückten Dummfug bin ich da jetzt nur wieder hinein geraten!, dachte ich mir, während ich den Kopf wiegend nachdachte.
„N-nein – ehrlich gesagt noch nie.“
„Siehst du – und das ist der Sinn und Zweck dieses Bauwerks – das hier ist die bedeutendste Literarische Zeiterfassungs- und Aufbewahrungsstelle in dieser Nebenwelt. Ich sammle all diese nicht genutzten literarischen Zeitspannen und archiviere sie.“
„Aha. Für wen oder was?“
„Na, für den Großen Gnuff.“
„Was ist ein Gnuff?“
Fortsetzung folgt!
