Unmittelbar nach Frau Perls Abgang brachen auch die Damen und Herren des Seniorentreffs auf, schweigsam, betroffen, die Köpfe gesenkt, die Blicke der anderen meidend. Jegliche vorweihnachtliche, fröhliche Stimmung war verpufft. Nur Frau Stegert hängte sich betont fürsorglich beim schwer gehbehinderten, neunzigjährigen Herrn Kramer ein und gellte: „Ich bring‘ Sie nach Hause. Nicht dass Ihnen noch etwas passiert, es ist schon dunkel, und vielleicht ist die Straße glatt.“
Der alte Mann wandte sich ihr zu: „Was hat denn die Frau Perl gesagt? Ich hab das alles nicht so richtig mitbekommen.“
„Ja, mei, sie hat sich von uns verabschiedet, weil sie zu ihrem Sohn zieht, und uns ein frohes Fest und alles Gute gewünscht.“
In ihrem behaglichen und blitzsauberen Häuschen angekommen hängte sie sorgfältig den Mantel auf und entledigte sich ihrer Schuhe. Dann wandte sie sich dem Portrait ihres Mannes über dem Garderobenschränkchen zu – eines von vielen, die im ganzen Anwesen verteilt waren: „Die Perl ist immer schon eine gspinnerte blöde Kuh gewesen, aber heut hat sie sich wie eine Verrückte aufgeführt.“
Sie ging ins Wohnzimmer und einem spontanen Impuls folgend nahm sie das Telefon und wählte die Nummer ihrer älteren Tochter.
„Irene, ich bin‘s, die Mama. Sag mal, habt ihr nicht Lust, Weihnachten bei mir zu verbringen? Platz ist genug, die Kinder können ja unten im Keller im Bastelraum vom Papa schlafen.“
„Tut mir leid. Wir verbringen die Feiertage bei den Eltern vom Ferdl in Südtirol. Die Bärbel hat ja am Fünfundzwanzigsten einen großen runden Geburtstag, und uns alle eingeladen.“
Alle außer mich, der Gedanke stach Frau Stegert ins Herz. Nach ein paar nichtssagenden Floskeln und einem kurzen, schwer lastenden Schweigen war das Gespräch beendet.
Sie und ihr Mann hatten die angeheiratete Verwandtschaft, die in einem kleinen Bergdorf nahe Brixen ein kleines Obst- und Weingut bewirtschaftete, vor etlichen Jahren ein paar Tage lang besucht, das war kurz nach der Geburt des ersten Enkels gewesen. Frau Stegert wurde mit Irenes Schwiegereltern nicht recht warm, trotz – oder vielleicht gerade wegen – deren lebensvoller, offener und freundlicher Art. Anders verhielt es sich mit ihrem Mann, er war von den Beiden auf Anhieb begeistert, und nach einem spannenden Tag, den er zusammen mit Ferdl Senior in der riesigen Franzensfeste verbracht hatte, bahnte sich eine Freundschaft zwischen den Männern an.
Doch Frau Stegert hatte in ihrer Ehe das Motto „Du sollst keine anderen Götter – und Freunde! – neben mir haben!“ zum obersten Credo erhoben, und so stichelte und hetzte sie so lange gegen die Südtiroler, bis das Verhältnis abkühlte und ganz erlosch.
Sie fühlte sich einsam und müde, und es fröstelte sie, so kauerte sie sich in ihren voluminösen Lieblingssessel mit Blick auf die Müllcontainer, und wickelte sich in eine flauschige, sandfarbene Decke. Einen Wimpernschlag lang glomm ein winziger Funken Reue, Scham und Bedauern in ihr auf – und verlosch.
Ein Auto näherte sich der Senke, genauer gesagt der Geländewagen vom Bauern Lenz vom Alpbichl. Frau Stegert setzte sich ruckartig auf und griff nach dem Opernglas. Der Lenz hatte die Scheinwerfer seines Wagens brennen lassen, und sich außerdem noch eine Stirnlampe über die dicke Wollmütze geschoben, mit der er seinen kantigen, fast kahlen Schädel vor dem kalten Winterwind zu schützen pflegte, so konnte seine Beobachterin sehr genau erkennen, dass er wieder einmal ein dickes Bündel Textilien in den Behälter für die Altkleider gab.
Kaum hatte der Bauer seinen Heimweg angetreten, pirschte sich Frau Stegert an die Container heran, um genauer nachzusehen. Sie hatte ihr kleines Küchenschemelchen dabei, erklomm dieses, stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte hinein. Sie griff nach dem großen Bündel und zog es zu sich heran. Es waren ausschließlich Frauenkleider. Was das wohl zu bedeuten hatte?
Wieder zurück in ihrem gemütlichen Sessel kam ihr die Erleuchtung: Die Lenzens hatten Eheprobleme! Vermutlich lebten die Beiden schon in Scheidung, die Frau – die ist aber in letzter Zeit auch immer magerer geworden, und hat sich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr im Ort blicken lassen! – war deswegen ausgezogen, und der Kerl hat nun entsorgt, was sie nicht mitgenommen hat! Ja, genau! So musste es sein! Sie dachte lange darüber nach, und je detaillierter sich in ihrem Kopfe diese Geschichte zu formen begann, die sie gleich morgen im Supermärktchen ihren Bekannten erzählen würde, desto wärmer wurde ihr, und desto wohler begann sie sich zu fühlen.
Spät abends brühte sie sich eine Tasse Schlaftee auf, die sie mit einem ordentlichen Schuss Melissengeist würzte. Unvermittelt kam ihr die Erinnerung an den Auftritt der ehemaligen Bibliothekarin während der Weihnachtsfeier in den Sinn, und wie tief kränkend der letzte Teil von Frau Perls Ansprache gewesen war! Und dass man sie bei der großen Familienfeier in Südtirol ganz offensichtlich nicht dabei haben wollte, wo sie doch immer so gut zu den Leuten dort gewesen war. In der kleinen Küche prostete sie mit tränenschwerer Stimme dem über der Eckbank hängenden Portrait ihres Mannes zu: „Gerald, sei froh, dass’d nimmer lebst. Die Leut‘ werden immer boshafter und gehässiger zueinander.“…
Ende
