… Schon beim Aufschließen der Wohnungstür fühlte Erich, daß eine böse Überraschung seiner harrte. Er irrte sich nicht, an den übermannshohen Garderobenspiegel war ein mit tiefschwarzem Edding-Stift beschriebenes DIN-A-4-Blatt geheftet: „Ich habe die uninspirierende und todlangweilige Eintönigkeit mit Dir ein für alle Mal satt! Ich werde mit Timo neu anfangen! Leb wohl!“…
… Es dauerte lange, bis der mittelgroße, schlanke Mitdreißiger endgültig realisiert hatte, daß Emma, seit fast zehn Jahren seine Angetraute, ihn tatsächlich verlassen hatte. Er fuhr sich durch das dunkle, leicht gewellte Haar und fiel wie betäubt auf die gepolsterte Sitzbank neben dem Schuhregal. Seine schmalen, blauen Augen blickten stumpf ins Leere…
… Emma und er hatten sich während ihres Studiums an der Akademie der Bildenden Künste kennen und lieben gelernt. Nach einem halben Jahr leidenschaftlicher Affäre heirateten sie. Erich geriet in eine Sinnkrise, tief enttäuscht gab er die Bildhauerei auf und nahm eine Stelle als Versicherungvertreter an. Emma, klein und zierlich, ein quecksilbriges Energiebündel mit raspelkurzem, silberblondem Bubikopf und strahlenden, grünen Augen, machte ihren Abschluß und verdingte sich als Assistentin einer Kuratorin in einem der größten Museen der Stadt…
… Erich hasste es bald zutiefst, seinen Mitmenschen Versicherungen anzudrehen, dementsprechend schleppend liefen seine Geschäfte. Seine Frau indess machte Karriere, nach wenigen Jahren schon übernahm sie die Position der Sammlungsleitung Gegenwartskunst. Sie bekam einen Assistenten zugeteilt, Timo Brandstadt, etliche Jahre jünger als sie, von männlich-herber Schönheit, mit gestylter Pferdeschwänzchenfrisur und Modelfigur – Erich hatte ihn auf Anhieb widerlich gefunden…
… Er stand auf, holte aus dem Küchenschrank eine Flasche alten Scotch und ein hohes Wasserglas, und schleppte sich ins Arbeitszimmer am Ende des langen Flurs. Dort pflegte er nicht nur seine Akten sowie den Computer aufzubewahren. In heimlichen, tief nächtlichen Stunden modellierte er aus fleischfarbener Knetmasse seltsame kleine Figuren, männlich-weibliche Zwitterwesen mit grotesk übergroßen Köpfen, die er stets mit blutrot gefärbten Zahnstochern zu durchbohren pflegte, bevor er sie mit Kunstharz konservierte…
… Das erste Glas des dunkelgoldenen Getränks erfüllte ihn mit wohliger Wärme. Er seufzte tief auf und machte sich auf seinem Bürostuhl lang. Der zweite Drink jedoch brachte den quälend bohrenden Schmerz in sein Herz zurück. Erich kramte unter dem Schreibtisch nach der abgegriffenen Schuhschachtel, in welcher er die lustig und liebevoll verfassten Notizzettel aufbewahrte, die Emma in der ersten Zeit ihrer Ehe stets morgens an die Kühlschranktür geheftet hatte. Er zerriss und zerknüllte bitterlich weinend Blatt für Blatt und warf es in den nahe stehenden Papierkorb aus durchsichtigem Kunststoff…
… Das dritte Glas Whisky fachte eine noch nie gekannte Wut in ihm an. Er griff in wilder Raserei nach dem vollen Aschenbecher auf dem Schreibtisch, und schleuderte ihn samt Inhalt laut fluchend über die zerfetzten Liebesergüsse, danach öffnete er die Hose und urinierte schrill und hämisch lachend darauf. Er traktierte den Papierkorb mit Fußtritten, dann, als wäre er vom Wahnsinn gepackt worden, pflanzte er den Behälter auf einen alten, halb verrosteten Gartenstuhl, der im Dunkel in der Ecke hinter dem Aktenschrank verborgen stand, griff sich mehrere Dosen flüssiges Acryl und verteilte den Inhalt großzügig über Eimer und Sitzgelegenheit. Zu guter Letzt packte er seine in einer Schublade verborgene Sammlung absonderlicher Figürchen, und drapierte diese in ziemlich obszönen Stellungen obenauf…
… Eine Woche später suchte ihn Adrian Silberhorn auf, einer seiner wenigen Stammkunden. Während Erich mit gefurchter Stirn fahrig in Unterlagen blätterte, fielen die Blicke des Besuchers zufällig auf das seltsame Konstrukt aus ramponiertem Gartenstuhl, der wilden Orgie Dutzender Knetmasse-Gestalten, den mit einer undefinierbaren gelblichen Flüssigkeit getränkten Papierfetzen, aufgequollenen Zigarettenstummeln, Asche und dem verbeulten, vom Gespinst zahlreicher Risse und erstarrten Epoxit-Tropfen überzogenen Plastikkorb. Wie elektrisiert sprang der schmerbäuchige, glatzköpfige Mann auf. „Potztausend!“ Erich sah irritiert hoch. Sein Kunde fuchtelte mit dem dicklichen Zeigefinger. „Haben Sie das gemacht?“ Erich nickte peinlich berührt – er hätte dieses Gerümpel längst entsorgen müssen, dieses abstrakte Zeugnis seines großen Herzwehs. „Ich habe immer schon geahnt, daß Sie eine künstlerische Ader haben!“, bellte Silberhorn und schoß in die Zimmerecke, um das Objekt möglichst von allen Seiten in Augenschein nehmen zu können. „Das ist eine schlichtweg geniale Installation! So ausdrucksstark und vielschichtig deutbar! Das ist das beste Stück moderner Kunst östlich der Sonne und westlich vom Mond – und ich kann das sehr wohl beurteilen, ich bin Kunstkenner und -sammler.“ Er wandte sich zu Erich, der ihn völlig entgeistert anstarrte. „Ich MUSS das haben! Ich suche seit langem schon nach einem Kernstück für meine Sammlung, die demnächst als Leihgabe im Museum der Moderne gezeigt wird. – Nennen Sie mir den Preis!“ In Erichs Kopf herrschte komplette Wirrniss. Das ist sicher eine Verarsche hoch Zehn und in den nächsten Sekunden werden Emma und Timo herein platzen und schallend über ihn lachen. Aber wenn nicht? Wenn das hier real ist, und die größte Chance seines Lebens? Erst nach mehrmaligem Krächzen gelang es ihm, eine sechsstellige Summe zu artikulieren. Der Schmerbäuchige packte ihn enthusiastisch bei den Schultern. „Prächtig! Prächtig! Ich überweise Ihnen das Geld noch heute! – Sie haben doch bestimmt Ihrer Schöpfung einen Namen gegeben?“ Erich grinste schief: „*Östlich der Sonne und westlich vom Mond*.“…