… Am 9. Januar verstarb im Alter von 94 Jahren der geniale Schauspieler, Kabarettist, Intendant und Regisseur Otto Schenk in seiner Heimat am österreichischen Irrsee. Als ich mit Trauer diese Nachricht las, kam mir sogleich eine Episode früherer Zeiten in den Sinn, die zu den schönsten Erinnerungen meines Lebens zählt…
… Ich zog Anfang der Achtziger aus meiner Heimat in den südbayrischen Bergen nach München, Grund war eine turbulente Liebesgeschichte, die nicht lange währte. Mehr Glück hatte ich mit meinem neuen Job, ich bewarb mich bei einem international berühmten Feinkost- und Gastronomie-Unternehmen, wurde ohne viel Federlesen als Bedienung im Foyerrestaurant der Bayerischen Staatsoper eingestellt, und verblieb dort etliche Jahre…
… Mir eröffnete sich eine neue und unglaublich faszinierende Welt! Für klassische Musik hatte ich seit Kindertagen eine Vorliebe, und eines der größten Opernhäuser weltweit bot einen mehr als gut gedüngten Boden für meine Wissbegierde und wild wuchernde Phantasie. Nachdem ich die anfängliche Befangenheit überwunden hatte, machte ich es mir zur Angewohnheit, an langweiligen Nachmittagen, wenn nicht allzu viel vorzubereiten war, durch dieses unfassbar vielschichtige Haus zu streifen…
… Im Laufe der Jahre lernte ich jenen „Organismus“ Nationaltheater besser kennen als den Inhalt meiner diversen Rucksäcke, von der schwindelerregenden Beleuchterkanzel in der Kuppel bis zu den atemberaubenden Umgängen des Schnürbodens, von den hektisch summenden Büros der Intendanz, den Garderoberäumen, bis zum mehrere Stockwerke unter den Kellergewölben verborgenen „Elektronengehirn“, in welches ich mich während einer der heimlichen Exkursionen verirrt hatte, und den Eindruck hatte, auf der Brücke eines außerirdischen Raumschiffes zu stehen…
… Die Sopranistin Editha Gruberova feierte anlässlich einer Aufführung des „Barbier von Sevilla“ ein rundes Karriere-Jubiläum und orderte einen kleinen Champagner-Umtrunk in den Kulissen unmittelbar nach der Vorstellung. Während ich hinter meinem marmorverkleideten Bufettwagen etliche Flaschen möglichst lautlos entkorkte, und die kostbare Fracht vor einer Horde trinklustiger Bühnenarbeiter verteidigte, erlebte ich mit, wie sich vor den Protagonisten der gewaltige, goldbestickte, rubinrote Vorhang rauschend schloss und nach jedem jubelndem Applaus erneut beiseite glitt. An jenem Abend wuchs ein Wunschtraum von mir ins Unermessliche: Ich möchte einmal während einer Aufführung auf dieser Bühne stehen, und ein Teilchen der Inszenierung sein. Ich möchte vortreten bis ans Rampenlicht und es auskosten, wenn mehr als zweitausend Menschen gespannt und bewegt auf die Szenerie starren – und somit auch ein ganz klein wenig auf mich…
… Am nächsten Nachmittag lief mir der recht jugendlich wirkende Chef des Besetzungsbüros über den Weg, und ich packte sogleich die Gelegenheit beim Schopf. Er runzelte ob meiner atemlos vorgebrachten Frage die Stirn und wiegte den Kopf. „Versprechen kann ich nix, aber ich will sehen, was ich für Sie tun kann.“…
… Nur wenige Tage später ließ er sich an unserem Selbstbedienungs-Bufett ein gewaltiges Stück Sachertorte kredenzen, und winkte mich zu sich. „Sollten Sie nächsten Mittwoch Zeit haben, in der ‚La Bohéme‘ hätten wir noch einen Statistenplatz frei.“ – Und ob ich Zeit haben würde! Und wenn nicht, dann hätte ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt! Die „Bohéme“, meine absolute Lieblingsoper, eine der letzten im Repertoire verbliebenen Otto-Schenk-Inszenierungen, so liebevoll und detailgetreu in Szene gesetzt. Im Zweiten Aufzug spielt das Geschehen in einer Pariser Straße, in den vielschichtigen Kulissen wimmelt es nur so von Chorleuten, Solisten und Kleindarstellern – und da würde ich meinen großen Auftritt haben!…
… Eine geschlagene Stunde früher als vereinbart saß ich am Großen Tag auf der gepolsterten Wartebank im etwas chaotisch anmutenden Büro der Statisterie, der Leiter derselben und seine mütterlich-energische Frau zogen ob meiner Überpünktlichkeit amüsiert die Brauen hoch. Selbstredend war ich zuvor noch beim Friseur gewesen und hatte mich ausgesprochen sorgfältig geschminkt. Man weiß ja nie… So nach und nach trudelten meine „Mitakteure“ ein, die unterschiedlichsten Typen wuselten herum: Rüstige Rentner, Hausfrauen, Studenten, lässige Lebenskünstler und Möchtegern-Schauspieler diverser Geschlechter…
… Wir wurden in die großen Umkleideräume geführt, voll mit enorm ausladenden, fahrbaren Kleiderständern, auf denen sich Unmengen verschiedenster Kostüme reihten. Die Assistentin der Garderobiere drückte mir Rock, Mieder und wollenes Schultertuch einer etwas derben, dunklen, bäuerlichen Tracht in die Hand anstatt der tief ausgeschnittenen, apricotfarbenen, üppig mit Paletten bestickten Abendrobe, die sie über dem Arm hängen hatte. Nun ja, was soll’s, Hauptsache, einmal auf der Bühne stehen…
… Die Damen und Herren der Statisterie für den Zweiten Aufzug werden gebeten, sich auf die linke Nebenbühne zu begeben!“, schallte es aus dem über dem Türrahmen angebrachten Lautsprecher. Ich holte tief Luft und trottete dem Pulk der malerisch Verkleideten hinterdrein, verwinkelte, nur spärlich beleuchtete, sogar mir bis dato unbekannte Gängen entlang, treppab, durch eine wuchtige, eiserne Feuerschutztür – und dann standen wir im diffusen Dunkel zwischen Kulissenteilen, Scheinwerfern, Windmaschinen, schlangengleich über den Boden züngelnden Kabeln, und wurden durch einen zischelnd flüsternden Inspizienten aufgefordert, zu warten. Ich pirschte mich an eine Gruppe älterer Damen heran, die ins raunende Diskutieren verschiedener Zubereitungen von Pizzateig vertieft waren, und den Eindruck erweckten, als wären sie „alte Hasen“…
… „Was muss ich denn eigentlich tun, wenn wir jetzt dran sind?“ Sie musterten mich leicht amüsiert. „Zum ersten Mal dabei?“ Ich nickte. Eine mollige Rothaarige nahm sich meiner an: „Auch nix anderes als sonst, wenn’st in der Stadt einen Schaufensterbummel machst. Du flanierst halt einfach so zwischen de Kulissen ‚rum und passt auf, daß’d dem Chor net im Weg stehst. Sei einfach völlig natürlich.“…
… Der letzte Ton des Orchesters war verhallt, der himmelhohe, rubinrote, goldverbrämte, samtene Vorhang schloss sich mit einem wuchtigen Rauschen, wie aus dem Nichts tauchte das Heer der Bühnenarbeiter in ihren schwarzen Overalls auf, rasch, lautlos, völlig aufeinander eingespielt bugsierten sie die im Hintergrund bereit gehaltenen Kulissen der Pariser Straßenszene nach vorne, wahrend die Dachkammer des Ersten Aufzugs mittels Rollwägen und Seilen auf die rechte Nebenbühne und in den Schnürboden verfrachtet wurde…
… Lampenfieber packte mich, meine Hände wurden klamm und schweissnass. Lieber Himmel, worauf hatte ich mich da nur wieder eingelassen!…
… Vom Schnürboden glitt die komplette Fassade eines Blumenladens herab, sie rastete, von ein paar Helfern dirigiert, auf der vorgesehenen Markierung ein, Requisiteure in weißen Mänteln huschten heran, die Arme voll mit künstlichen Sträußen und Topfpflanzen, welche sie im Schaufenster arrangierten, als Kellner gewandete Komparsen legten letzte Hand an die Möbel eines kleinen Straßencafés im vorderen Teil der Bühne, der Inspizient winkte uns zu. „Meine Damen und Herren, nehmen Sie bitte Ihre Plätze ein!“…
… Ich marschierte wie die anderen nach vorne, und kam in der Nähe des Blumenladens wieder halbwegs zu mir. Welch ein Gewusele und Gedrängele rings um mich herum! Ich hob den Kopf und starrte nach oben, in die vielen Reihen kleiner, großer, bunter, abgeschirmter, voll blendender Scheinwerfer hinein, die weit über mir Trauben an den Rebstöcken gleich an den Beleuchterbrücken prangten. Das Orchester setzte ein, zunächst gedämpft durch den Vorhang, der nun auseinander glitt und den Blick frei gab auf den abgedunkelten Zuschauerraum, der von meiner Warte aus wie ein überdimensionaler Bienenkorb anmutete. Da fiel alles Lampenfieber von mir ab, und ich bestand nur mehr aus einer tiefen und beseligenden Freude. Es war so unfassbar schön! Ich blähte die Nüstern und sog die Bühnenluft in mich ein, dieses mit Worten nicht zu beschreibende Aroma…
… Natürlich stand ich mitten im Chor, als dieser aus vollen Kehlen zu singen anhub, zog ich mich langsam und möglichst unauffällig zurück, stumm meine Lippen bewegend. Mein Tatendrang war für’s Erste gebremst und ich begnügte mich damit, scheinbar die Auslagen des an den Blumenladen angrenzenden Geschäfts für Damenmoden zu mustern. Doch meine Augen standen nicht eine Sekunde lang still, zu viel gab es zu bestaunen, sich einzuprägen, sich daran zu erfreuen…
… Schließlich wurde ich wieder mutiger. Langsam tastete ich mich zwischen der strudelnden Statistenmenge vorwärts, schlenderte am Café vorbei, auf dessen kleinem Vorplatz sich nun das Hauptgeschehen abspielte, ich bewunderte die Solisten und beneidete ein bisschen das junge Mädchen, welches nun statt meiner eine in die wunderschöne Robe gekleidete fesche Kurtisane darstellen durfte. Ich traf das wackere Grüppchen der hilfreichen Damen wieder, die Pizzateig-Diskussion war noch immer im Gange, und wir bummelten ein Stückchen gemeinsam…
… Vorne, ganz in der Nähe der Rampe, stand ein kleiner Handkarren, überhäuft mit uralten, zerfledderten Büchern, ich tastete mich dorthin, nahm einen der abgewetzten Bände auf und tat, als würde ich lesen, unter gesenkten Wimpern hindurch warf ich jedoch einen langen, sehr langen Blick über den dämmerigen Orchestergraben hinweg. Ein Meer an Gesichtern schien mir zugewandt zu sein, gebannt, vertieft in die schöne Darbietung. Mein Herz tat einen weiten Satz vor Glück. Ich schlenderte wieder nach hinten, spürte den unregelmäßigen Bühnenboden unter den Sohlen, den Glast der Scheinwerfer auf meinen Schultern, den dumpfen Odem der veralteten Kulissen in der Brust, ich verinnerlichte jede Sekunde dieses Abenteuers voll Bedacht, auf dass ich diesen Abend nie, nie, nie wieder vergessen möge…
… Die schönen Stimmen verklangen, der letzte Akkord des Orchesters flog hinaus in die weit geschwungenen Ränge – und da brauste er auch schon heran, der rotsamtene, goldbestickte Vorhang…