Als junges Mädchen hatte ich ein absolutes Lieblingsbuch: “Mein Freund Flicka”, geschrieben von der Amerikanerin Mary O’Hara. Die Geschichte an sich ist schnell erzählt: Ein verträumter und sehr weltfremder Knabe namens Ken pflegt auf der Ranch seiner Eltern inmitten der scheinbar endlosen Weiten Wyomings das schwerverletzte, halbwilde Stutfohlen Flicka gesund, zähmt es und gewinnt nicht nur dessen Liebe, sondern auch den Zugang zu seinen Mitmenschen und zum realen, nicht immer schönen Leben. Damals schon fesselten mich an diesem Werk die ungeheuer eindringlichen Schilderungen der Landschaften des Mittelwesten Amerikas und die wahrhaft lebendig und anschaulich ausgearbeiteten Charaktere der zwei- und vierbeinigen Hauptdarsteller. Ich konnte mich so sehr darin versenken, mit dem Knaben Ken fühlen, mit der kleinen Flicka leiden, am glücklichen Ende Ströme von Tränen vergießen und allen Kummer und Ungemach eines pubertierenden Teenagers vergessen…
… Mehr als fünfzig Jahre später nahm ich, einer spontanen Eingebung folgend, während einer Übernachtung in einer Berghütte nahe Mittenwald das “Flicka”-Büchlein mal wieder zur Hand und verfiel zu meiner völligen Überraschung erneut dem Zauber, welcher diesem Werke inne wohnt. Ich wurde wieder zum Kinde, meine Falten, meine grauen Haare, die Last der Jahrzehnte schwanden magischerweise, wie in meiner frühen Jugend konnte ich mich in den Knaben Ken so sehr hinein versetzen, mit dem Fohlen Flicka gegen den Tod kämpfen, und am glücklichen Ende heulte ich wie ein Schlosshund…
… Schon einige Jahre zuvor hatte ich, neugierig geworden, mittels der herrlichen Erfindung Internet nach dieser Mary O’Hara zu stöbern begonnen, welche für mich bis dahin leider lediglich die recht unbekannte Autorin eines wunderschönen und in meinen Augen zeitlosen Werkes gewesen war. Ich wurde fündig und grub eine atemberaubende Lebensgeschichte aus, faszinierender noch als ihr Roman…
… Mary O’Hara wurde stolze fünfundneunzig Jahre alt und verfaßte in ihrem neunzigsten Lebensjahr ihre Autobiographie “Flicka’s Friend…”, welche leider auf Deutsch nicht erhältlich ist. Sie wurde 1885 in Brooklyn, New York City, als Tochter eines Pastors geboren, hatte noch zwei Schwestern und einen Bruder. Ihre Großmutter mütterlicherseits entstammte einer der damals wohlhabendsten Familien Amerikas. Die Mutter verstarb sehr früh, Mary und ihre Geschwister verbrachten etliche Jahre in der Obhut der reichen Oma und einer mehr als exzentrischen, launenhaften, überaus dominanten, zu Wutausbrüchen neigenden Tante, der sie im dritten Teil der Flicka-Trilogie, „Grünes Gras“, ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Sie bereisten Zigeunern gleich schier die ganze Welt, ehe Pastor Alsop erneut heiratete und die warmherzige und liebenswerte Stiefmutter die vier Kinder unter ihre Fittiche nahm. Mary O’Hara durchlebte und durchlitt zwei stürmische Ehen, gebar zwei Kinder und verlor bereits in frühen Jahren ihre geliebte, wunderschöne Tochter an Krebs. Sie arbeitete während der Stummfilm-Ära als Drehbuchautorin und galt in einer Zeit, da Emanzipation noch ein Fremdwort war, als ausgesprochen unbequem und selbstbewußt, eine knallharte Geschäftsfrau, mit der man sich besser nicht anlegte. Sie schrieb Zeitungsartikel und Kurzgeschichten und mehr als ein halbes Dutzend Romane, spielte hervorragend Piano, komponierte und verfasste Schlager, Filmmusiken, klassische Stücke und ein Musical. Zusammen mit ihrem zweiten Mann, Helge Sture-Vasa, einem nach Amerika immigrierten Schweden, ehemaliger Berufssoldat und Schauspieler, einer schillernden und ziemlich undurchsichtigen Gestalt, zog sie nach Wyoming. Auf der “Remount-Ranch”, die bis zum heutigen Tage existiert, und in den drei Flicka-Romanen als „Goosebar Ranch“ verewigt ist, züchteten die Beiden Rinder, Schafe und Pferde und leiteten ein Sommercamp für Jugendliche. Nach ihrer zweiten Scheidung kehrte sie zurück an die Ostküste, nach Massachusetts, wo sie bis zu ihrem Tode 1980 lebte…
… Ich bestellte mir bei einem Internet-Antiquariat ihre Autobiographie. Und obwohl Englisch nicht meine Muttersprache ist, habe ich dieses Buch gefesselt verschlungen. Was für ein farbenprächtiges, facettenreiches, in so vielerlei Hinsicht begabtes und begnadetes Schicksal entfächerte sich auf den gut zweihundertachtzig Buchseiten! Distanziert und humorvoll, lebensvoll, lebensklug geschildert. Welch eine starke Frau sprach mich da an und zog mich in ihren Bann! Und wieder löste sich die Zeit auf in Nichts, Mary O’Hara war mir beim Lesen so nah, so vertraut, als säße sie mir gegenüber auf der Couch und erzählte von ihrem Leben, als wären keine zig Jahre seit ihrem Tode vergangen, als wären wir die besten Freundinnen…
… Ich habe sie in meine ganz persönliche Galerie “Schutzgeister” aufgenommen. Und wenn ich mal wieder einen gar schönen Nachmittag auf dem weitläufigen Gelände und in den Stallungen des Bayerischen Haupt- und Landgestüts Schwaiganger zubringe, dann denke ich ganz besonders gerne und innig an „Molly“ – so ihr Spitzname – und ihre unbeugsame Stärke und Tapferkeit, und an die zeitlosen, so sympathischen Romanhelden, zwei- und vierbeinig, die sie so lebendig und unvergesslich geschaffen hat.





