… Am Mittwoch morgen kam es am S-Bahnhof Unterföhring bei München zu einer Schießerei: Ein 37-jähriger, in den USA lebender Mann mit deutschen Wurzeln entriss bei einer Kontrolle einem Polizisten die Waffe und ballerte um sich, dabei verletzte er eine junge Beamtin lebensgefährlich, zwei Passanten trugen ebenfalls Schusswunden davon. Die Administratorin einer FB-Gruppe, welche sich mit der Geschichte einer deutschen Großstadt befasst, und häufig recht interessante Details darüber online stellt, nahm sich aufgrund der allerersten im WWW erscheinenden Schlagzeile mit einem dramatisch gehaltenen Kommentar des Verbrechens an. Nebst einigen unverkennbar braun angehauchten Individuen, die anscheinend seit langem schon völlig unbehelligt als Mitglieder der Gruppe geduldet werden, und in ihren Kommentaren ungebremst Lynchjustiz einforderten und ihre Bereitschaft zu Gewalttaten kund taten, waren auch etliche sehnsuchtsvolle Äußerungen zu lesen, man würde sich so sehr die „guade oide Zeit“ wieder herbei wünschen, denn da hätte es so etwas nie und nimmer gegeben…
… So, so…
… Nun denn, dann will ich doch mal die „guade oide Zeit“ etwas genauer unter die Lupe nehmen:…
- In der „guadn oidn Zeit“ gab es weder Kranken-, geschweige denn eine Arbeitslosen- bzw. Rentenversicherung, kein sogenanntes Soziales Netz.
- Es gab keinerlei Gewerkschaften, ergo auch nicht die geringsten Arbeitnehmerrechte. Ganz zu schweigen von einer Fünftagewoche oder einem Achteinhalb-Stunden-Tag. Gearbeitet wurde an sechs Tagen die Woche, mindestens zehn, oft sogar zwölf bis vierzehn Stunden lang. Hausangestellte hatten sogar eine Siebentagewoche, und bekamen nur am Sonntagnachmittag ein paar Stunden frei. Kündigungsschutz? Fehlanzeige! Man konnte ohne Angabe von Gründen von jetzt auf gleich entlassen werden!
- Die Hygiene war höchst mangelhaft, Seuchen wie Typhus, Cholera und offene TBC rafften alljährlich Zigtausende hinweg. Die Chirurgie steckte in den Kinderschuhen, ein entzündeter Blinddarm konnte tödlich enden. Es gab keine ärztlichen Notdienste, keine Notfall-Ambulanzen. Auf den Straßen stank es zum Gotterbarmen, da in den Städten keinerlei Kanalisation vorhanden war. Es gab kein fließendes warmes und kaltes Wasser, dieses musste mühsam mit Eimern aus oft recht weit entfernten Brunnen geholt werden, keine Zentralheizung, die im kalten Winter die eigenen vier Wände schön mollig warm hält, kein elektrisches Licht. Wenig Betuchte konnten sich zumeist nur sogenannte Unschlitt-Kerzen leisten, die gar fürchterlich und beissend qualmten. Ging man mit diesen sowie den offenen Herdfeuern etwas unachtsam um, brannte häufig nicht nur die eigene Wohnung ab, sondern gleich ein halbes Stadtviertel.
- Dass die „guade oide Zeit“ im Vergleich zu heute friedvoll und quasi ohne Verbrechen gewesen wäre, ist ein schönfärbender, ja, geradezu verlogener Mythos. Skrupellose Räuberbanden durchzogen die Lande und erleichterten ungezählte Reisende um Gut und Leben. Nur gut betuchte und hochgestellte Bürger konnten sich damals zum Schutz bewaffnete Begleittrupps leisten. Besonders herausragende Kriminelle des 19. Jahrhunderts in und um München: Adele Spitzeder, Eduard Gänswürger und Ferdinand Gump, Johann Berchtold, der Würger von München genannt, der legendäre Matthias Kneißl, sowie Josef Apfelböck – um nur einige wenige Beispiele zu nennen, nachzulesen hier.
- Es gab außer den Pferdebussen, die Mitte des 19. Jahrhunderts in München eingeführt wurden, keinen Nahverkehr, natürlich auch keine Fahrstühle und Rolltreppen – oftmals stundenlang zu Fuß gehen und mühsam Treppen steigen war angesagt!
- Das Angebot an Nahrungsmitteln war für die kleinen Bürgerlein höchst begrenzt, solche Köstlichkeiten wie Ananas, Bananen und Kokosnüsse z. B., die man heutzutage für wenig Geld in jedem Discounter erstehen kann, waren den Schwerreichen und Adeligen vorbehalten. Mangelernährungen und deren grausame Folgekrankheiten wie z. B. Skorbut und Rachitis waren an der Tagesordnung, vor allem wenn Mehltau- und Kartoffelkäfer-Epidemien die Ernten eines ganzen Jahres vernichteten. Die Oberen Zehntausend, wie unser bayerischer König Ludwig III. und seine vielköpfige Familie, ließen es sich z. B. an Weihnachten 1916 in der gut beleuchteten und beheizten Residenz bei Hirschbraten mit Preiselbeersoß, Blaukraut und Kartoffelknödel recht wohl ergehen, während nicht wenige seiner Untertanen sogar ihre ledernen Gürtel auskochten, um der faden und nährstoffarmen Wassersuppe wenigstens ein bisschen Geschmack zu verleihen.
- Wenn die Obrigkeiten beschlossen, dass es mal wieder Zeit für einen Krieg sei, dann wurden die männlichen Untertanen von Sechzehn aufwärts zwangsrekrutiert. Ob man beim Blutvergießen mitmachen bzw. für seine Herrscher den Kopf hinhalten wollte – danach wurde nicht gefragt.
- Mal kurz die Koffer ins Auto werfen und in wenigen Stunden auf der Autobahn nach Bella Italia brausen? Vergessen Sie’s! Reisen war nur etwas für die finanziell besser gestellten Menschlein jener – zum Glück! – längst schon vergangenen Tage. Es gab keinen gesetzlich geregelten Urlaubsanspruch. Und eine Fahrt von München ins Land, wo die Zitronen blühen, war eine sehr strapaziöse und mühsame Angelegenheit, die sich über etliche Tage hinzog.
- Als ledige Frau ein Kind in die Welt setzen, war ein furchtbares Vergehen, der Ruf bis ans Lebensende ruiniert. Sexuelle Erfahrungen eines Mädchens vor der Ehe waren eine Todsünde! Frauen hatten keinerlei Rechte! Als Paar unverheiratet zusammen leben? Das wäre ein sündhaftes Unding sondergleichen gewesen!
- An den Schulen wurde reger Gebrauch von der Prügelstrafe gemacht. In den Genuss einer höheren Schulbildung sowie eines Studium kamen lediglich die Sprößlinge der Vermögenden. Kindergärten, Vorschulen, Kindertagesstätten – Fehlanzeige!
- Zu guter Letzt: Es gab kein Wahlrecht, keinerlei Mitspracherecht der BürgerInnen. Prinzregenten, Könige, Kurfürsten verstanden sich als von Gottes Gnaden eingesetzt. Der Herrschaftsanspruch wurde vererbt, und oft genug auch durch Zwangsverheiratungen gesichert. Das Volk musste auf Gedeih und Verderb die Entscheidungen der Regierenden hinnehmen, egal, ob diese nun gut waren oder sich als katastrophal erwiesen.
… Haben Sie immer noch Sehnsucht nach der „guadn oidn Zeit“? Ehrlich gesagt – ich nicht. Ich ziehe das Hier und Jetzt mit all seinen fortschrittlichen Annehmlichkeiten eindeutig vor. Manchmal denke ich mir aber, dass die „guade oide Zeit“ einen großen Vorteil gehabt hat: Es hat damals kein Internet gegeben, keine sogenannten „sozialen Netzwerke“, in denen jeder windige, aufgeblasene, selbstgerechte und ungebildete Stammtisch- und Couchpolitiker seine unflätigen und unzivilisierten Äußerungen nach wie vor großenteils ungehindert und ungestraft der ganzen Menschheit mitteilen kann…