… wäre heute 90 Jahre alt geworden. Was sie wohl über das entsetzliche Wiedererstarken rechter Parteien und Ideologien hier in Deutschland sagen würde, hätte sie überlebt? Über das Wegsehen und Kleinreden (die sind bestimmt alle nicht so schlimm! Die tun ja nichts, die wollen doch nur spielen!) – genauso, wie es sich in den späten Zwanzigern, den Dreißigern und Vierzigern des vorigen Jahrhunderts zugetragen hat? Wie ihr wohl zumute wäre angesichts der Tatsache, dass sich eine eindeutig politisch rechts angesiedelte Partei mittlerweile in sämtlichen 16 Länderparlamenten und dem Bundestag etabliert hat? Was sie uns raten würde angesichts der permanent zunehmenden Gewalt von Rechten gegen Andersgläubige, Andersdenkende, Menschen mit Migrationshintergrund, gegen Flüchtlingsheime, Moscheen, Synagogen, jüdische Friedhöfe, jüdische und muslimische Lokale, Mord- und Gewaltdrohungen gegen beherzte AntifaschistenInnen, JournalistenInnen und PolitikerInnen, gegen Menschen, die sich für die Integration Geflüchteter einsetzen? Wie sie wohl der geballten Ladung rechtsextremen Hasses hier in den „sozialen“ Netzwerken entgegnen würde?…
… in Deutschland fröhliche Urständ feiern und schon längst in der sogenannten gutbürgerlichen Mitte angekommen sind, ist mittlerweile hinlänglich bekannt. Bisweilen treiben diese zumeist völlig unberechtigten und grundlos andere Ethnien verhetzenden und verunglimpfenden Vorurteile recht kuriose Blüten, wie ich anlässlich meines Klinikaufenthalts erfahren musste:…
… In den ersten Tagen im Krankenhaus unterhielt ich mich sehr gerne mit einer attraktiven Frau mittleren Alters. Sie war gepflegt, gut gekleidet, hatte eine sympathische Ausstrahlung und wirkte gebildet. Während eines unserer Gespräche hielt sie inne und fragte mich: „Mit welchen Frauen liegen Sie denn im Zimmer? Sind das Deutsche oder Ausländerinnen?“ – „Deutsche.“, erwiderte ich aufgeräumt und ahnungslos. „Gut“, meinte die Dame, „dann können Sie Ihre Zahnbürste im Bad lassen. Hätten Sie Ausländerinnen im Zimmer, dann würde ich Ihnen jetzt den Rat geben, Ihre Zahnbürste jedesmal, nachdem Sie sie benutzt haben, im Nachtkästchen einzuschließen.“ Ich machte große Augen. „Warum?“ – „Na, weil die Ausländer allesamt keine Zahnbürsten haben. Und deshalb benutzen die dann die von uns Deutschen, wenn wir sie im Bad liegen lassen.“ Ich war völlig baff. Mir sind bereits ungezählte seltsame Argumente von „besorgten Bürgern/innen“ untergekommen, aber dieses hier war schon außergewöhnlich skurril. Ich konnte gar nicht fassen, was ich da gehört hatte! Ich schluckte und fragte so freundlich als möglich: „Das können Sie doch bestimmt beweisen, nicht wahr?“ Meine Gesprächspartnerin zuckte mit den Schultern. „Öhm, nein, eigentlich nicht. Aber man hört doch so einiges.“ – „Also, ich glaube da nichts, was man mir nicht hieb- und stichfest beweisen kann.“, entgegnete ich mit leiser Stimme. Und obwohl ich inzwischen gut gelernt habe, ruhig, sachlich und vernünftige Argumente nutzend mit Menschen mit ausländerfeindlicher Gesinnung zu diskutieren, wandte mich um und ging…
… „Der Bombenangriff am 25. April 1944 auf München begann um ziemlich genau ein Uhr morgens. Es war der achtzehnte Angriff auf die Stadt, und er wurde von der Air Force angeführt. Eingeleitet wurde er durch einen Scheinangriff auf Karlsruhe, um die deutschen Nachtjäger abzulenken. Da diese bald landen mussten, weil ihre Tanks leer waren, konnte der Luftschlag gegen München wie ein routiniertes Lehrbuch-Manöver statt finden. Die umliegende FlakAbwehr hatte 350 bis 400 feindliche Maschinen gemeldet. Als erstes wurden elf Mosquito-Bomber gesichtet, die Stanniol-Streifen abwarfen, um die deutschen Funkmessgeräte unbrauchbar zu machen. Mehrere Mosquitos markierten im Sturzflug mit roten Leuchtbomben das Hauptangriffsziel, den Hauptbahnhof. Es folgte ein dichter Teppich von Brandbomben, die ersten sogenannten „Wohnblock-Knacker“ detonierten, das sind Bomben mit enormer Sprengkraft gewesen. Die meisten Bomber konnten ungehindert bis in die Stadtmitte vordringen. Dreizehn Maschinen wurden von der Flak im Raum München abgeschossen, drei schlugen im Stadtgebiet auf. Laut Behörden wurden allein in dieser Nacht an Sprengmitteln abgeworfen: sieben Sprengbomben mit je 2.000 Kilogramm, 24 Sprengbomben zu 500 Kilogramm, 54 zu 250 Kilogramm, 844 Flüssigkeitsbrandbomben, rund 550.000 Stabbrandbomben, 14.160 Phosphorbrandbomben zu 14 Kilogramm, 10.245 Flammstrahlbomben zu 13 Kilogramm, 459 Blitzlichtbomben, 36 Zielmarkierungsbomben und rund 2500 Flugblätter…
136 Personen sind diesem Angriff zum Opfer gefallen. Fast 4.000 Menschen wurden verletzt, davon 500 schwer, cirka 1.900 leicht, cirka 1.800 erlitten Augenverletzungen… Das Gesicht der Stadt hat sich in jener Nacht dramatisch verändert. Wertvolle geschichtliche Bauten und Baudenkmäler wurden zerstört, darunter die Residenz, das Odeon, das Rokoko-Palais, die Bürgersaalkirche, die Heiliggeistkirche, die Damenstift- und die Herzogspitalkirche. Viele Wohnungen gingen verloren. 70.000 Menschen wurden obdachlos. Um 2.53 Uhr meldete ein einminütiger hoher Dauerton das Ende der Luftgefahr.“…
… Aus Recherchegründen für mein aktuelles Roman-Projekt musste ich mich genauer mit diesem schwersten Bombenangriff auf meine Heimatstadt München befassen…
… Die Saat zu dieser auch nach über siebzig Jahren immer noch erschütternden brachialen Gewalt haben unsere Vorfahren mit einer unfassbaren Welle der Fremdenfeindlichkeit (Holocaust), der unmenschlichen Ausgrenzung, Ermordung und Verfolgung Andersartiger wie Homosexueller, Andersgläubiger, geistig und körperlich Behinderter und das Gedankengut der Nazis ablehnender Mitmenschen ausgebracht. Die Anzeichen mehren sich – siehe die jüngsten Wahlergebnisse in Hessen, und die zunehmende Anzahl von Brandanschlägen und Angriffen gegen Fremde in unserem Land sowie gegen aufrechte und mutige Zeitgenossen/innen, die sich dem Rechtsdrall entgegen stellen – dass die Geschichte sich zu wiederholen droht…
… Lasst es nicht so weit kommen. Schweigt nicht, macht den Mund auf. Schreibt, redet, argumentiert, helft, zeigt Zivilcourage. Helft mit, damit weder wir noch unsere Nachfahren jemals wieder solch ein Grauen, solch ein Leid und Entsetzen erleben müssen…
… In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 war das Bersten und Klirren von Fensterscheiben und Schaufenstern zu vernehmen. Die Schritte hastig und voll Verzweiflung und Todesangst Fliehender, und die ihrer Verfolger und Peiniger. Das Lodern und Prasseln der Flammen, das Bersten und Einstürzen der in Brand gesetzten Läden und Häuser. Das Stöhnen, Wehklagen und Schreien der Geschundenen, Missbrauchten, Verwundeten. Das letzte Aufseufzen der Sterbenden. Das Gröhlen der „Heil!“-Parolen der braunen Junta. Das Peitschen und Knattern von Gewehrfeuer…
… Reichskristallnacht 1938…
… Trotz all dieser erschreckenden, überlauten Geräusche hat es damals sehr viele Menschen gegeben, die nichts gehört haben wollen…
… Wider das Leugnen. Wider das Vergessen…
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