… Gegen Mitte Juni traf ich zufällig in der Fußgängerzone eine frühere Arbeitskollegin. Wir hatten uns immer gut verstanden, auch wenn wir nur relativ selten miteinander als Museumsaufsichten in der Münchner Residenz eingeteilt worden waren. Sie erzählte mir betrübt, dass sie Anfang Juli in Rente gehen würde. Obwohl sie sich gut dreißig Jahre für einen Schutz- und Sicherheitsdienst krumm und bucklig geschuftet habe, würde sie in Zukunft von dem, was man ihr monatlich ausbezahlen würde, nicht leben können, denn der Stundenlohn ihres Brötchengebers war seit jeher ausgesprochen mager, und der Arbeitsvertrag mit stundenweiser Abrechnung eine Zumutung. Ich legte ihr nahe, sich an das Sozialamt zu wenden und Grundsicherung zu beantragen. Und bot ihr meine Hilfe an, denn mit diesem Amt hatte ich ja vor Jahren ein gerüttelt Maß an Erfahrungen gesammelt. Wir tauschten die aktuellen Telefonnummern aus und gingen wieder unserer Wege…
… Neulich fiel mir ein, dass ich von Bärbel doch eine geraume Weile nichts mehr gehört hatte. Ich wollte wissen, wie es ihr denn im Sozialamt ergangen sei, und ob ich ihr bei der Bearbeitung des recht umfangreichen Antrags zur Hand gehen könne…
… Sie meldete sich gleich beim ersten Klingelton und ließ sich nicht lange bitten, mir ihr Leid zu klagen. Nein, den Antrag auf Grundsicherung lt. SGB XII habe man ihr noch nicht zugeschickt. Seit gut drei Wochen habe sie insgesamt dreizehn Mal angerufen – beim Servicetelefon, bei einem Sachbearbeiter, den ihr eine Dame vom Servicetelefon fälschlicherweise als für sie zuständig genannt hatte, bei der richtigen Sachbearbeiterin und bei deren angeblicher Bürokollegin. Meistens würde nur eine Ansage vom Band laufen, dass aufgrund des hohen Arbeitsaufkommens telefonische Anfragen nicht entgegen genommen werden könnten, man solle sich per E-Mail bzw. Brief an sie wenden. Zweimal habe sie eine Nachricht auf dem AB hinterlassen, vier E-Mails und zwei Briefe verschickt. Und bis dato habe man auf keine einzige ihrer Bemühungen reagiert. “Nichts! Nicht einmal den kleinsten F*** hat man mir zur Antwort gegeben! Da fühlt man sich scheiße, das kann ich dir sagen!”…
… Ich versicherte ihr, dass ich ihren Frust ausgesprochen gut nachvollziehen könne. “Weisst du,”, meinte sie, “neulich hatte ich am Servicetelefon eine sehr gesprächige Mitarbeiterin. Die erzählte mir, dass die Leut’ aus der Ukraine ohne Termin und völlig unbürokratisch Leistungen vom Sozialamt beziehen würden. Die würden in der Früh einfach so zur Tür hereinmarschieren, und nach dem Ausfüllen eines dreiseitigen Antrags würde man ihnen quasi sofort die Grundsicherung bewilligen. Und vor mir hätte sie einen deutschen Schwerbehinderten am Telefon gehabt, der wäre den Tränen nahe gewesen. Sein Antrag sei vor über zwei Monaten genehmigt worden, und bis zum heutigen Tag sei kein einziger Cent vom Sozialamt auf sein Konto überwiesen worden. Furchtbar! – Ich kann das durchaus verstehen, dass man Kriegsflüchtlingen rasch helfen möchte, wäre ich in deren Lage, dann wäre ich auch heilfroh, wenn man mir so schnell als möglich unter die Arme greifen würde. Ich kann auch verstehen, dass wegen der Menschen aus der Ukraine Sozialämter und Jobcenter überlastet sind. Du kennst mich, ich bin ganz sicher politisch nicht braunversifft, aber wenn man als Einheimische, die fünfundvierzig Jahre lang brav ihre Steuern und Abgaben abgedrückt hat, und die sich ihrer Lebtag lang nichts zuschulden hat kommen lassen, bei der Bitte um Hilfe vom Sozialamt fast einen Monat lang völlig ignoriert wird, dann kommt man schon in Versuchung, sich ungute Gedanken zu machen. Da frage ich mich dann auch, ob ich mir vielleicht einen ukrainischen Pass besorgen sollte, um an meine Grundsicherung zu kommen! – Kennst du vielleicht jemanden, der sich auf’s Fälschen von Dokumenten versteht? (Das ist jetzt nicht ganz ernst gemeint!)”…
… Ich gab ihr den Rat, noch einmal beim Servicetelefon des Sozialamts anzurufen und nach der Teamleitung ihrer Sachbearbeiterin zu fragen. Die für sie zuständige Sachbearbeiterin noch einmal anzuschreiben, um eine Rückmeldung zu bitten und eine Frist von einer Woche zu setzen. Und wenn dann immer noch keine Reaktion erfolgen würde, erst einmal eine briefliche Beschwerde per Einschreiben mit Rückantwort an die Teamleitung zu schicken. Und wenn das auch nichts bringen würde, eine Dienstaufsichtsbeschwerde einzureichen. “Und – was denkst du – wie viel Wartezeit muss ich da jetzt einkalkulieren?” – “Kann ich dir leider nicht sagen. Aber rechne noch mit einigen Wochen.” – “Weisst du, ich habe ja noch ein paar tausend Euro auf der Seite, dieses sogenannte Schonvermögen, das habe ich mir in all den Jahren als Museumsaufsicht quasi vom Mund abgespart. Aber das habe ich eigentlich als Rücklage für den Winter gedacht, für Schlimmes, was vielleicht noch auf uns zukommen mag! Das würde ich nur ausgesprochen ungern jetzt verbrauchen müssen, nur weil das Sozialamt nicht dazu in der Lage ist, auf meine Anfragen zu reagieren.” Bedrückt beendeten wir unser Gespräch…
… So weit ich weiß, ist in den Sozialämtern und Jobcentern bundesweit die Personaldecke seit langem schon mehr als hauchdünn und sehr angespannt, dem Eifer geschuldet, so schnell als möglich die “Schwarze Null” zu erreichen. Und auch aufgrund der teils durchaus menschenunwürdigen Behandlung der Hilfesuchenden – angefangen bei den sehr umfangreichen Anträgen auf Grundsicherung und Hartz IV, bei denen man sich ja bis hinein in die Privatsphäre förmlich entblößen muss. Dass das nicht jeder Hilfesuchende auf die leichte Schulter nimmt, und gute Laune zum bösen Spiel macht, ist nachvollziehbar! In den letzten Jahren ist die Zahl der bedrohlichen Konfliktsituationen in den Sozialämtern massiv angestiegen. Wer will sich schon als Sachbearbeiter:In unter solchen Bedingungen das täglich Brot verdienen und dort anheuern! – Das rächt sich jetzt – und zwar an jenen, die an dieser Situation nicht die geringste Schuld tragen – vor allem an den geringverdienenden Rentnern:Innen, den Schwer- und Schwerstbehinderten, denen, die in diesen Zeiten der Inflation und geradezu explodierenden Energiekosten Unterstützung bitter nötig haben. Kein Wunder, dass jene, die sich nun um Hilfe bittend an diese Ämter wenden, und ignoriert bzw. deren Anliegen auf die lange Bank geschoben werden, auf düstere Gedanken kommen. Und ich gehe sehr davon aus, dass meine frühere Kollegin Bärbel kein Einzelfall ist! Und dass diese Situationen natürlich auch polarisieren und mit Sicherheit dem braunen Gesindel wieder mehr Leute in die Arme treiben werden!…
… Meine Daumen für Bärbel sind ganz fest gedrückt. Und ich hoffe zutiefst, dass man im Amt der Ämter demnächst ein Einsehen haben und ihr einen Termin geben wird…