… Beinahe unmittelbar nachdem ich vor elf Jahren das erste Mal den Boden Floridas betreten hatte, näherte sich ein Hurrikan der Kategorie Fünf, der schwersten überhaupt, der Ostküste des Sunshine State. Den ersten Urlaubstag in Orlando konnte ich in Disney’s Magic Kingdom noch recht unbeschwert verbringen, am nächsten Tag allerdings musste ich das Epcot Center beinahe im Sauseschritt durchmessen, da man angesichts der drohenden Katastrophe die Themenparks bereits am frühen Nachmittag schloß. Als ich auf dem Expressway vorsichtig Richtung Unterkunft tuckerte, denn von Osten her fauchten inzwischen stoßweise ausgesprochen heftige Böen heran und ließen mein kleines Wägelchen schlingern, war auf den Gegenspuren Richtung Landesinnere bzw. Westküste der Verkehr bereits zum Erliegen gekommen. Stoßstange an Stoßstange drängten sich die Fahrzeuge vieler Tausender Küstenbewohner, die ihre Heimstätten verlassen hatten, um fern des als verheerend angedrohten Sturmes Schutz zu suchen…
… Das Foyer und der Speisesaal des kleinen Hotels, in welchem ich während der ersten drei Tage logierte, war proppenvoll mit Evakuierten, die auf dem Boden ihre Schlafsäcke, Matratzen, Kissen und Decken ausgebreitet hatten, lediglich ein schmaler „Pfad“ war zwischen den Kampierenden verblieben, auf dem man zu den geduckten Wohngebäuden gelangen konnte, ohne auf Hände, Füße, kleine, greinende Kinder, Spielsachen, Picknickkörbe, Kofferradios, Computerspiele etc. zu treten. Im kleinen Supermarkt nahebei musste ich geschlagene zwei Stunden warten, um, dem ständig wiederholten Ratschlag aller Wetterexperten in Funk und Fernsehen folgend, einige der letzten großen Wasserflaschen und ein paar Sandwiches zu ergattern…
… Es wurde eine sehr unruhige, so gut wie schlaflose Nacht. Der Sturm heulte und donnerte um die Ecken der Anlage, rüttelte an den Wänden, ließ die Türen und Fenster klappern. Ich hatte die Badewanne bis zum Rand mit kaltem Wasser befüllt, der Fernseher lief und versorgte mich pausenlos mit den neuesten Informationen über die Route von „Flloyd“, so der Name des Hurrikans. Jede Stunde streiften die Lichtkegel patrouillierender Sicherheitskräfte über die Zimmerfenster. Ich hielt zwar das in Klarsichtfolie eingewickelte Päckchen mit den Sandwiches unentwegt in den Händen, vergaß aber vor Anspannung völlig darauf, zu essen. Gegen Morgengrauen nickte ich dann für kurze Stunden ein…
… Als ich unausgeruht und zerschlagen Richtung Lobby tapperte, um auszuchecken, denn die Bleibe für die kommenden drei Tage war in Cocoa Beach vorgebucht worden, löste sich das nächtliche Chaos der „Flüchtlinge“ allmählich auf, allerortens wurden die Habseligkeiten eingesammelt, an den beiden Toiletten/Waschräumen stand man geduldig in sehr, sehr langen Schlangen an, um sich wenigstens halbwegs frisch machen zu können. „Flloyd“ hatte sich quasi in letzter Sekunde zu einem Hurrikan der Kategorie Vier abgeschwächt, die Ostküste Forida’s verschont und war wieder auf’s offene Meer hinaus gezogen. Erleichterung machte sich allerortens breit, fast so etwas wie eine Volksfeststimmung kam auf. Mit Musik, Lärm, Spruchbändern und auf Anzeigetafeln tat man der großen Freude kund, wieder einmal von der immer wieder drohenden Katastrophe verschont geblieben worden zu sein…
… Zerschlagen, übermüdet, nervös und emotional durch die Ereignisse der vergangenen vierundzwanzig Stunden auch sehr beansprucht, reihte ich mich in die endlose Phalanx der an die Ostküste zurück Kehrenden ein. Ich verschwendete keinen einzigen Gedanken daran, was mich dort erwarten mochte, als aus einer Stunde im Schritt-Tempo zwei, dann gar drei wurden – normalerweise fährt man von Orlando nach Cocoa Beach ungefähr eine dreiviertel Stunde – hatte ich nur mehr einen sehnlichen Wunsch: Meine Ruhe haben und ungestört schlafen können…
… Je näher mein Weg mich an die sogenannte Space-Coast führte, umso augenfälliger wurden die Sturmschäden: entwurzelte Bäume lagen beiderseits des Beeline-Expressways, Strommasten waren geknickt wie die Streichhölzer, pausenlos begleitete das Gellen der Sirenen von Feuerwehren die letzten Kilometer der kurzen Reise, zuhauf patrouillierten Trupps der Nationalgarde und der für die jeweiligen Countys zuständigen Sherriffs, Kabel wurden geflickt, Häuser leer gepumpt, Verschalungen an Türen und Fenstern entfernt, Dächer repariert…
… Vorsichtig bog ich in die geschwungene Ausfahrt des „Hol.iday-In.ns“ in Cocoa Beach ein, stieg aus – und stand vor einem verrammelten und verriegelten Anwesen! Mir wurden die Knie flatterig. Herrschaftszeiten, was mach‘ ich jetzt bloß! Vorsichtig pirschte ich mich um das Hauptgebäude herum auf die Rückseite. Durch ein gekipptes Fenster konnte ich leises Stimmengewirr vernehmen. Menschen! Hurra, da ist jemand zugange!…
… Im Büro des Hotels tobte das Leben, pausenlos klingelte das Telefon, Fax-Geräte surrten, die Tasten der Computer-Keyboards klapperten in einem wirbelnden Rhythmus. Nach kurzem Klopfen trat ich ein, beherzt mein Voucher schwenkend. „High, ich bin Frau I. aus München, Deutschland, ich habe für die nächsten drei Nächte ein Hotelzimmer bestellt!“ Fünf Augenpaare wandten sich mir zu und starrten mich an, als wäre ich eine Spukgestalt, ein Grünes Frauchen oder so was in der Art. Der noch sehr junge Hoteldirektor schluckte, ich sah seinen Adamsapfel nervös tanzen. „Ja, sehen Sie, unser Haus ist leider noch geschlossen, wegen dieses Hurrikans.“ Erneut winkte ich mit dem Voucher, allerdings sehr matt, und diesmal wortlos. Der Direktor lächelte mich an: „Wissen Sie was, fahren Sie doch wieder zurück nach Orlando, ich kläre das telefonisch ab und lasse Ihnen ein Zimmer in einem unserer Häuser dort reservieren.“ Mein stets vernünftiges Innere Stimmchen flüsterte: „Der Mann hat Recht.“ Aber ich war dermaßen fix und fertig, dass ich für Vernunftgründe nicht mehr zugänglich war. „Ich habe über drei Stunden von Orlando hierher gebraucht – und ich fahre jetzt nicht mehr dorthin zurück.“ Im selben Augenblick bog so etwas wie ein Haustechniker im grauen Mäntelchen um die Ecke und verkündete, dass man im Nordflügel wieder Strom und fließendes Wasser habe. Der Hotelchef zuckte mit den Schultern. „Wir könnten Ihnen jetzt ein Zimmer geben, Frau I. Allerdings ohne jeglichen Komfort. Auch unser Restaurant wird erst morgen früh öffnen und ich glaube, der Wallm.art gegenüber ist auch noch zu.“ Ich schüttelte strahlend den Kopf. „Ach, das macht mir nichts! Hauptsache, ich habe ein Bett zum Schlafen und ein Dach über dem Kopf. Ich habe zu Trinken dabei und noch einige Sandwiches. Das ist schon okay.“ Man händigte mir eine Keycard aus, schärfte mir ein, dass ich auf gar keinem Fall die Türe hinter mir ins Schloss fallen lassen dürfte, wenn ich das Zimmer verlassen würde, da man nicht dafür garantieren könne, dass die elektronischen Schlösser bereits wieder funktionierten, und zeigte mir meine Bleibe…
… Als ich aus der schön eingerichteten, großzügig geschnittenen Unterkunft einen Korbstuhl und ein Tischchen auf die Veranda zerrte, um dort ein frühabendliches Picknick zu veranstalten, wurde mir das Abenteuerliche dieser Situation bewusst. Ich war einen Abend und eine Nacht lang der einzigste Gast eines Siebenhundert-Betten-Hotels. Für ein derartiges Privileg muss man normalerweise sehr, sehr viel Geld berappen. Ich bekam diese Übernachtung sogar gratis, wie ich anderntags an der Rezeption erfahren durfte…
„Martha allein zuhaus“ 😉
… Am nächsten Morgen erhob sich die Sonne wundervoll golden glühend aus dem Atlantik und grüßte mich, als habe es nie zuvor so etwas wie einen Hurrikan namens „Flloyd“ gegeben…
… Und ich steuerte wohlgemut das grade wiedereröffnete Hotelrestaurant an, schlug mir mit einem mehr als opulenten amerikanischen Frühstück den knurrenden Magen voll, um dann berstend vor freudiger Erwartung und Unternehmungslust Richtung Kennedy Space Center zu fahren…