… 635 Tage im Eis – Die Shackleton-Expedition…
… Irgendwann zu Beginn des glutheißen Sommers hatte ich mal irgendwo gelesen, dass sich die Hitze besser ertragen lassen würde, würde man Bücher von Polar-Expeditionen schmökern. Ich machte die Probe aufs Exempel und lieh mir in der Stadtbibliothek Eingefroren am Nordpol, das Logbuch der erfolgreichen Expedition des Forschungs-Eisbrechers Polarstern. Jedesmal nach der abendlichen Lektüre durfte ich erfreut feststellen, dass jener gute Rat tatsächlich ein bisschen dabei half, die häufig geradezu tropischen Temperaturen zu erdulden. Im Laufe der kommenden Monate las ich ein zweites Mal Erebus – ein Schiff, zwei Fahrten und das weltweit größte Rätsel auf See von Michael Palin, das ich bereits im Herbst 2021 atemlos gespannt förmlich verschlungen hatte, sowie Die Polarfahrt von Hampton Sides und sah den Film Das Rote Zelt über den Flug Umberto Nobiles an Bord des Zeppelin Italia über den Nordpol, der tragischen Havarie des Luftschiffs im Eismeer und die dramatische Rettungsaktion…
… Mittlerweile ist der Sommer vorüber, mein Interesse an Literatur zum Thema Expeditionen in die (noch) permanent von Eis und Schnee bedeckten Regionen dieser Welt ist allerdings geblieben und hat sich zu einer Art neuem Hobby entwickelt. So erfreute ich mich erst neulich an der ausgesprochen fesselnden Schilderung von Alfred Lansing 635 Tage im Eis – Die Shackleton Expedition. Ein Buch über die gescheiterte Durchquerung des südpolaren Kontinents des irischen Forschers und Abenteuers Ernest Shackleton und seiner 28köpfigen Besatzung in den Jahren 1914 bis 1916, die aber dennoch zu einem Erfolg wurde und ihm weitaus mehr Ruhm und Ehren einbrachte als seine wissenschaftlichen Beiträge zur Antarktisforschung…
… Im Sommer 1914 wird die dreimastige Schonerbark Endurance, die eigentlich Shackleton und seine Mannen am westlichen Ufer der Antarktis hätte absetzen sollen, vom Packeis umschlossen „wie eine Mandel in einem Stück Schokolade“. 281 Tage widerstand das Schiff den Gewalten des Polarmeers, wurde am 15. November 1915 dann aber durch die Eismassen zerdrückt und sank. Das Expeditionsteam hatte sich zuvor auf eine sichere Eisscholle geflüchtet, wo sie ein Patience Camp genanntes Lager errichteten. Auf dem unaufhörlich dahin driftenden Packeis und anschließend an Bord ihrer drei Rettungsboote trieben die Schiffbrüchigen eine schier unendlich lange Zeit gen Nordwesten, bis sie schließlich einen schmalen und unwirtlichen Strand auf dem kleinen Elephant Island an der Spitze der Antarktischen Halbinsel erreichten. Mit den Resten an Brettern, Bohlen, Planen und den verbliebenen Fetzen der einstigen Segel der Endurance bauten sie die sieben Meter lange James Caird, eines der Rettungsboote, seetüchtig um. Ernest Shackleton begab sich mit fünf seiner Männer an Bord, um an der Grenze der Packeiszone entlang Richtung Südgeorgien zu segeln bzw. zu rudern. Der 22köpfige Rest seines Teams verblieb auf dem kleinen, Peggotty Camp genannten Strand. Das schier Unmögliche gelang. Mit allerletzter Kraft erreichten Shackleton und seine Mannen am 20. Mai 1916 die Walfangstation Stromness am nordöstlichsten Zipfel Südgeorgiens. Es dauerte noch ein paar Monate und mehrere vergebliche Fahrten mit diversen Schiffen, bis am 30. August 1916 die auf Elephant Island verbliebenen zweiundzwanzig Mann binnen einer Stunde sicher an Bord des Walfangschiffes Yelcho gebracht worden waren…
… Der einstige Marinesoldat und freie Journalist Alfred Lansing beschreibt diese gescheiterte Expedition, den fast zwei Jahre andauernden beinahe tagtäglichen Kampf der Expeditionsteilnehmer ums Überleben und ihre Rettung auf 318 Buchseiten so eindringlich und bildhaft, als wäre er selbst dabei gewesen. Vor der Erstveröffentlichung seines Buches in den Fünfzigern hatte er jahrelang akribisch die Tagebücher der Überlebenden studiert, ausgiebige Briefwechsel und Gespräche mit ihnen geführt. Im Jahr 2.000 wurde 635 Tage im Eis… sorgfältig überarbeitet, stilistisch angepasst und neu veröffentlicht. Beim Eintauchen in diese Lektüre fühlte ich mich jedesmal hautnah in die Schicksale der Protagonisten versetzt, kämpfte, litt, hoffte, bangte mit ihnen. Ich konnte die furchtbaren Schneestürme fast körperlich spüren, die unerträgliche Eiseskälte, die permanente Nässe der sich allmählich in ihre Bestandteile auflösenden, faulenden Kleidungsstücke, Schlafsäcke, Planen. Die Eintönigkeit der täglichen Ernährung, die in der Hauptsache aus erlegten Robben, Pinguinen und Seevögeln bestand. Den Frust und die Langeweile, eingepfercht zuerst auf der Packeisscholle, die sich am Ende des antarktischen Polarwinters zusehends aufzulösen begann, und später auf einem nicht mehr als ungefähr achtzig mal dreißig Meter messenden Strand auf Elephant Island, umgeben von lotrecht und unbezwinglich aufragenden Bergen und Gletscherausläufern. Die unsäglichen Entbehrungen, Rückschläge, körperlichen und psychischen Qualen. Und den trotz aller Widrigkeiten nie erlöschenden Überlebenswillen Ernest Shackletons und seiner Besatzung. Ein Bildteil mit Originalaufnahmen des Expeditionsfotografen James Hurley macht es einem noch leichter, sich in diese eigentlich gescheiterte Expedition einzufinden…
… Und ich freute mich jedesmal, wenn ich nach stundenlangem Schmökern das Buch aus der Hand legte, über mein gemütliches und sicheres Zuhause, das warme, weiche Bett und die mittlerweile als selbstverständlich erachteten Errungenschaften wie warme, unversehrte Kleidung, das dichte Dach über meinem Kopf, einen wohlgefüllten Kühlschrank, Heizung und Licht…
… Wer eine stringent auf Fakten basierende, überaus fesselnde Abenteuergeschichte lesen will, ist bei diesem Buch bestens aufgehoben…