… Ein Gastbeitrag von Grit Maroske, anlässlich des 1. Jahrestags des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz. Grit hat diesen Post vor genau einem Jahr geschrieben – und ich denke, er ist heute immer noch sehr aktuell:…
Zwischen Glühweintassen, Lebkuchenherzen und einem Weihnachtsbaum liegt ein Schuh. Ich sehe das Bild in den Nachrichten und denke an den Menschen, dem dieser Schuh gehört. Lebst du? Kämpfst du mit dem Tod? Was ist dir geschehen?
Ein Ereignis wie das am Breitscheidplatz in Berlin holt uns alle aus den Schuhen. Für einen kurzen Moment begreifen wir, was wir sonst verdrängen. Das Böse ist unter uns. Immer. Es lebt seit Anbeginn aller Zeiten mit uns und versteckt sich hinterm dem Gesicht des Nachbarn, der heimlich Frauen ermordet. Es sieht aus wie der freundliche Zeitungsverkäufer, der daheim Frau und Kinder schlägt. Es ist die Frau, die in der U-Bahn immer Zeitung liest und gegen Juden hetzt. Es ist der stille Junge aus dem Schützenverein, der loszieht, um wahllos Leute zu erschießen. Es ist der Tunesier mit den schlecht verheilten Aknenarben im Gesicht, der so schön lächeln kann und plötzlich ein Messer zückt. Es ist der Arbeitskollege, den alle nur als pünktlich und exakt kennen, der nachts Flüchtlingsheime anzündet.
Das Böse hat ein menschliches Gesicht. Es ist immer in uns und um uns und wartet still und gierig, bis es genug gefüttert ist durch Hass, Ablehnung, Ausgrenzung, Diskriminierung, Verzweiflung, Wut, Neid, Gier, Machstreben. Wenn es stark genug ist, bricht es aus, mitten unter uns. Jeden Tag. Auch an einem Dezembertag mitten in Berlin auf einem Weihnachtsmarkt.
Wir wollen das vergessen. Wir wollen es nicht wahr haben, dass das Böse zu uns gehört, in jedem von uns schlummert. Wir wollen uns sicher fühlen. Das Böse ist nur in den andern und nur anderswo. Nicht hier, in mir. Nicht in meinem Nebenmann. Das Böse – das ist das, was uns fremd ist und von außen unsere Gesellschaft bedroht. So möchten wir es sehen, damit wir uns besser fühlen.
Dass wir geschockt sind, zeigt uns: Es ist nicht normal, es ist kein Alltag, dass das Böse ausbricht und Menschen in den Tod reißt. Es wird sofort ganz wichtig für viele, wer dieses Mal das Böse beherbergt hat. War es ein Ausländer? Gar ein Muslim? Hat er getötet, um seinem Gott zu gefallen? Wollte er eine politische Botschaft überbringen? Ist er durchgedreht? Wir wollen Abstand bringen zwischen das Böse und uns. Wir wollen zeigen: das gehört nicht zu uns. Dabei gehört es zum Menschsein, dass wir anderen Menschen Böses tun. Tiere sind nicht grausam, nicht mal wenn sie töten.
Wir wollen es nicht wahrhaben: Bis jetzt haben wir nur Glück gehabt. Reichsbürger bewaffnen sich, erschießen Polizisten. Rechte Gewalttäter zünden Häuser an, in denen Flüchtlinge wohnen und werfen Brandsätze gegen Moscheen und Synagogen. Menschen leben ihren Hass gegen Schwule und Schwarze ganz offen in Cafes, auf Bahnhöfen oder Strassen aus. Kriminelle Banden schießen aufeinander. Jeden von uns kann es jeden Tag treffen, was uns quält ist die Schuld und die Hilflosigkeit der Überlebenden, die mit dem Finger auf das Böse zeigen.
Wir fragen: WARUM? Als wäre das wichtig. Als könnte irgendein Grund rechtfertigen, was das Böse tut. Machen wir uns nichts vor: Motive sind nur etwas für Juristen. Wenn das Böse genug gefüttert wurde, bricht es aus, tötet Menschen und die Überreste seiner Untaten verfüttert es an die gierigen Kommentatoren in den sozialen Netzwerken.
Die lassen sich nur allzu willig mit dem Bösen füttern und merken nicht, dass sie selbst damit neue Ungeheuer heranziehen, die bereit sind, auf ihre Stunde zu lauern und wieder Böses zu tun.
Es wird ein ewiger Kampf sein zwischen dem Bösen, das in uns allen schlummert und dem Guten, zu dem wir fähig sind. Wer dem Bösen die Nahrung entziehen will in diesen Tagen, der muss sich selbst dem Kreislauf entziehen, aus dem Böses entsteht.
Was können wir tun? Wir können Blut spenden gehen, denn es wurde viel Blut vergossen, und nun wird es in den Krankenhäusern gebraucht. Wir können Mitgefühl mit den Opfern und ihren Familien zeigen. Wir können Geld sammeln und Karten schreiben und ihnen so zeigen, dass sie in ihrem Schmerz und Verlust nicht allein sind. Wir können zusammenrücken und uns gegenseitig wärmen und trösten. Wir können eine Mahnwache abhalten und still unsere Trauer zeigen. Wir können dankbar sein, dass alle unsere Lieben unversehrt sind. Wir können denen, die jetzt Hass und Hetze in die Kommentarspalten kippen, den Boden entziehen, indem wir ruhig und besonnen und menschlich bleiben.
Lassen wir nicht zu, dass die Opfer von Berlin missbraucht werden. Wir können mit den Berlinern solidarisch sein. Wir können unsere Liebe zeigen, unser Mitgefühl, unsere Stärke und unsere Hilfsbereitschaft. Wir, und nur wir können dem Bösen die Nahrung verweigern. Lassen wir uns nicht vergiften. Bleiben wir menschlich.