… Nachdem sich das Unwetter verzogen hatte, machte ich mich per Kursschiff auf den Weg zur Marienschlucht an der Nordseite des Bodanrück, des lang gestreckten Hügelrückens, welcher den Überlinger- vom Untersee trennt. Wie ein tiefer Riss – die Felswände ragen an manchen Stellen bis zu 100 Metern auf – hat sich ein kleines Bächlein seinen steilen Weg durch das Molassegestein gegraben. Ende des neunzehnten Jahrhunderts, als der Tourismus am Bodensee zu florieren begann, hatte man die Schlucht mittels einer teilweise sehr wagemutig konstruierten, abschüssigen Holztreppe begehbar gemacht…
… An manchen Stellen wirkt die Klamm wie verwunschen, düster und geheimnisvoll, mit undefinierbaren Runen und Zeichen in den von Moosen und Farnen bewachsenen Gesteinswänden, die bisweilen bis auf die Enge von grade mal einem Meter zusammen rücken – ich fühlte mich da irgendwie an die Sideoportas, die dramatischste Stelle der kretischen Samaria-Schlucht erinnert…
… Da ich ja nun nicht mehr so gut zu Fuß bin, und vor allem mit höheren Stufen Probleme habe, ist das für mich an einigen Stellen schon ein recht schwieriger Aufstieg gewesen – zum Glück marschierte hinter mir ein sehr nettes Urlauberpärchen, das mir immer wieder mal helfend unter die Arme griff und mich stützte und führte…
… Oben angelangt zog ich meine Karte zurate und beschloss, weiter nach Wallhausen zu wandern, um dort die Fähre zurück nach Überlingen zu nehmen. Schon nach einigen Kehren und wenigen hundert Metern stellte ich fest, daß die Anstrengungen der Marienschlucht ein Honigschlecken im Vergleich zu dem waren, was nun des Wegs kam. Teilweise war der Pfad nur etwa ca. zwanzig Zentimeter breit. Das mittägliche heftige Unwetter hatte den Lehm glitschig und schlüpfrig wie Seife gemacht. Links von mir gähnte ein recht tiefer, fast senkrechter Abgrund, ich schätze mal, gut hundert Meter mochten es durchaus bis zum See hinunter sein. Ich glitt einige Male aus, und konnte mich nur durch beherzte Griffe ins wuchernde Unterholz retten. Nach einer dieser haaresträubenden Aktionen musste ich unvermittelt schallend laut lachen. Mir kam in den Sinn, daß es noch gar nicht so lange her war, da ich Pläne schmiedete, wie ich mich wohl am besten ins Jenseits befördern würde. Angesichts meiner abenteuerlichen Tour kamen mir solche Gedanken ausgesprochen skurril und widersinnig vor – sie zerstoben, lösten sich auf ins Nichts…
… Der Sturm hatte einige Bäume entwurzelt, kreuz und quer lagen sie über dem Weg. Es war ungeheuer mühselig, sie zu umgehen, teils balancierte ich oben drüber, teils kroch ich untendurch, manchmal regelrecht auf allen Vieren. Schuhe, Hose, Arme, Beine waren schlammbespritzt, und die Ellenbogen und Oberarme schon nach kurzem übersät mit Mückenstichen, obwohl ich mich auf dem Schiff noch gründlich mit dem an sich sehr wirksamen Anti-Brumm eingesprüht hatte. Hin und wieder taten sich wunderschöne Ausblicke auf den sonnenbeschienenen See auf – sie gaben mir immer wieder Kraft, weiter zu gehen…
… Endlich, endlich hatte meine abenteuerliche Irrfahrt ein Ende, der Pfad weitete sich zur beinahe komfortablen Forststraße. Nach etwa drei Kilometern tat sich rechterhand die sogenannte Waldesruh St. Katharinen auf, ein wunderschönes Waldstück, in welchem man seine Urne bestatten lassen kann. Sollte das mit dem Seebegräbnis eines hoffentlich noch fernen Tages nichts werden, dann könnte ich’s mir sehr gut vorstellen, hier meine letzte Ruhe finden zu dürfen…
… Kurz vor Wallhausen plätscherte an einem großen Grillplatz ein Brunnen vor sich hin. Ich löschte zunächst meinen gar fürchterlichen Durst, und versuchte dann, die Hose, Schuhe und meine Wenigkeit so gut als möglich zu säubern – den wenigen Wanderern, welchen ich begegnete, muss ich ein gar verwahrlostes Bild geboten haben…
… Wieder in Überlingen angekommen, gönnte ich mir als erste Belohnung ein sehr feines Eis, bevor ich mit dem Zug weiter nach Sipplingen fuhr, dem Endpunkt meiner kleinen Odyssee. Als zweite Belohnung wurde mir ein wunderschöner Sonnenuntergang zuteil, die dritte war ein halber Liter meines Lieblingsbodenseeweines, und die vierte das herzliche Willkommen der lieben Claudi, bei der ich zu Gast sein durfte, ein berückender, umwerfender Sternenhimmel, und viele gute Gespräche bis weit in die Nacht hinein…