Marthas Momente-Sammlung

Glück ist die Summe schöner Momente

Auszüge aus dem Kapitel „Ende einer Epoche“…

… Seit dem Tod von Queen Elisabeth II. kamen mir immer wieder die folgenden Stellen aus der monumentalen Familiensaga „Die Forsyte Saga“ des englischen Schriftstellers und Literatur-Nobelpreisträgers John Galsworthy in den Sinn. Er beschreibt gegen Ende des zweiten Bands – „Zu Vermieten“ – den Trauerzug anlässlich des Todes einer anderen großen britischen Königin, Viktoria (1819 – 1901):…

… Die Königin war tot, und die Luft der größten Stadt auf Erden grau von unvergossenen Tränen… Im Jahre 1837, als sie den Thron bestiegen hatte, baute der „große Dosset“ noch Häuser, die London verunzierten; und James, ein Springinsfeld von 26 Jahren, hatte eben den Grundstein zu seiner Rechtspraxis gelegt. Damals fuhren noch Kutschen, die Männer trugen Stöcke, rasierten ihre Oberlippe und aßen Austern aus Fässern. Lakaien standen hinten auf dem Wagen, Frauen sprachen geziert und hatten kein eigenes Vermögen, es gab die Eleganz und den Luxus der Landsitze und Schweineställe für die Armen, arme Teufel wurden wegen kleiner Vergehen gehängt, und Dickens hatte eben erst angefangen zu schreiben. Seitdem waren zwei Generationen vergangen – mit Dampfbooten und Eisenbahnen, Telegraphen, Zweirädern, elektrischem Licht, Telephonen und neuerdings auch Motorwagen -, mit einer solchen Anhäufung von Reichtum, dass aus acht Prozent drei wurden, und es Forsytes zu Tausenden gab. Die Moral hatte sich geändert, die Sitten hatten sich geändert, die Menschen waren zu Verwandten der Affen geworden, und Gott hatte sich in Mammon verwandelt, und der Mammon war so ehrenwert geworden, dass er sich selbst etwas vormachte. 64 Jahre, die den Besitz begünstigten und den gehobenen Mittelstand schufen, ihn unterstützten und verfeinerten, bis er in Sitten, Moral, Sprache, Aussehen, Kleidung und Seele vom Adel fast nicht zu unterscheiden war. Eine Epoche, die die individuelle Freiheit vergoldete, so dass jemand, der Geld hatte, in Theorie und Praxis frei war, und jemand, der keins hatte, wohl in der Theorie, nicht aber in der Praxis frei war. Eine Ära, die die Heuchelei heiligsprach, so dass man achtenswert war, wenn man es zu sein schien. Eine große Zeit, deren formendem Einfluss nichts entgangen war, außer der menschliche Charakter und die Natur des Universums…

… Um das Ende dieser Epoche zu erleben, strömten Londons Bürger durch alle Tore in den Hyde Park, das Zentrum des viktorianischen Zeitalters, den glücklichen Jagdgrund der Forsytes. Unter dem grauen Himmel, dessen feiner Regen eben aufgehört hatte, sammelte sich die dunkle Menge, um das Schauspiel zu sehen. Die „gute, alte“ Königin, reich an Jahren und Tugenden, tauchte zum letzten Mal aus ihrer Abgeschiedenheit auf, um London einen Feiertag zu bereiten. Aus Houndsditch, Acton, Ealing, Hampstead, Islington und Bethnal Green, aus Hackney, Hornsey, Leytonstone, Battersea und Fulham, aus den grünen Gefilden, wo Forsytes gedeihen – aus Mayfair und Kensington, St. James‘ und Belgravia, Bayswater, Chelsea und Regents Park schwärmten die Leute auf den Weg, wo der Tod mit düsterem Pomp und Gepränge vorüber ziehen sollte. Nie wieder würde eine Königin so lange regieren oder das Volk Gelegenheit haben, für sein Geld so viel Geschichte begraben zu sehen…

… Da war sie, die Bahre mit der Königin, der Sarg des langsam scheidenden Zeitalters. Als er vorüberkam, vernahm man ein dumpfes Stöhnen aus der langen Reihe der Zuschauer, einen Ton, wie ihn Soames noch nie gehört hatte, so unbewusst, so ursprünglich, tief und wild, dass weder er noch irgend jemand wusste, ob er mit eingestimmt hatte. Ein sonderbarer Ton. Der Tribut eines Zeitalters an seinen eigenen Tod… Der Halt im Leben war geschwunden. Was ewig schien, war gegangen. Die Königin – Gott segne sie…

John Galsworthy (1867 – 1933)


6 Antworten zu “Auszüge aus dem Kapitel „Ende einer Epoche“…”

  1. Danke für den interessanten Textausschnitt! Die Regierungszeit von Victoria hat Elizabeth II ja reichlich überschritten. Für GB und das Commonwealth wird es sicher einen Wandel geben, wenn auch eher im symbolischen Bereich. Ich habe auch ein paar Artikel gelesen von Standpunkten aus afrikanischen Staaten, die ihre Position oder Nicht-Position in Fragen der Kolonialpolitik und der Unabhängigkeit ehemaliger britischer Kolonien negativ bis sehr negativ beurteilen.

    • Sehr gerne! Die „Forsyte Saga“ zählt seit nunmehr fünfzig Jahren zu meinen Lieblingsbüchern, ich kann gar nicht zählen, wie oft ich sie schon gelesen habe…
      Es wird interessant zu sehen, wie Charles III. nun als König agieren wird. Dass er die Monarchie verschlanken und sparen wird, steht ja schon seit langem fest. Wie er zu den britischen Kolonien steht, und welche Haltung er da in Zukunft einnehmen wird, darüber war noch nicht viel zu erfahren. Gestern abend habe ich gesehen, dass man in Jamaika auch ernsthaft daran gehen will, aus dem Commonwealth auszusteigen.

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