Marthas Momente-Sammlung

Glück ist die Summe schöner Momente

„Jeder soll das Recht haben,…

… jederzeit frei über sein Leben entscheiden zu können.“ Das stand neulich als Kommentar unter einem Facebook-Post zu lesen, auf den ich gleich zu sprechen kommen werde. Dieser Aussage stimme ich grundsätzlich zu. Das Recht auf freie Lebensgestaltung bringt allerdings auch gleichzeitig die Pflicht mit sich, nach bestem Wissen und Gewissen stets so durch die Welt zu gehen, dass keinem Mitmenschen ein Leid zugefügt wird. Und das gilt nicht nur für das Leben, sondern auch dann, wenn man Hand an sich legen will, um selbstbestimmt von dannen zu scheiden…

… Folgendes war passiert: Im Braunschweiger Bahnhof stieg ein sichtlich angetrunkener, älterer Mann auf die Gleise. Zwei beherzte Jungs sprangen ihm nach und bargen ihn, bevor der nächste Zug anrollte. Im Krankenhaus gab der Gerettete an, er habe Selbstmord begehen wollen, weil er so einsam sei. Unter vielen Kommentaren, die Erleichterung über die geglückte Rettung, Mitgefühl für den armen Mann und Respekt für die Retter zum Ausdruck brachten, befanden sich auch einige, die dergestalt lauteten: Warum man den Selbstmord-Kandidaten denn nicht hatte gewähren lassen, man habe schließlich das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben und einen ebensolchen Tod?…

… Meine Antwort auf diese Frage: Weil dieser Lebensmüde mit seinem dramatischen Ende etliche an seiner Misere völlig unbeteiligte und von daher absolut unschuldige Menschen schwer traumatisiert hätte, manche sogar bis an ihr Lebensende. Den/die Lokführer:In zum Beispiel. Die Rettungssanitäter:Innen. Notärzte:Innen. Polizei. Die Umstehenden, darunter vielleicht sogar kleine Kinder. Mit einem Suizid in aller Öffentlichkeit tötet man in der Regel nicht nur sich selbst, sondern fügt auch Anderen großes Leid zu. Davon abgesehen – wenn es nun eine Kurzschlusshandlung gewesen war, ausgelöst durch zu viel Alkohol oder persönlichen Stress? Wenn die Person in nüchternem Zustand und bei klarem Verstand überhaupt nicht auf die Idee gekommen wäre, einen Selbstmordversuch zu wagen? Hätte man sie dann auch ihrem Schicksal überlassen sollen?…

… Zur Veranschaulichung, welche Traumen das Mitansehen von Selbstmorden auslösen kann, zwei Beispiele aus meinem Umfeld:…

… Eine frühere Bekannte war U-Bahn-Fahrerin. Eines schönen Tages warf sich ein Selbstmörder vor ihr aufs Gleis. Nach einer intensiven psychotherapeutischen Behandlung nahm sie ihren Job erneut auf. Nicht lange danach sprang ihr wieder jemand vor den Zug. Die Frau ist seitdem schwerst psychisch gestört, und eine Chance auf eine Heilung ihrer Seele besteht nicht mehr. Auch etliche Jahre danach verliert sie bei bestimmten Geräuschen – quietschende Fahrradbremsen, das Knarren einer schlecht geölten Tür z. B. – oder dem Blick in einen dunklen Raum bzw. Keller völlig die Fassung, fällt in einen katatonischen Zustand und ist tagelang nicht mehr ansprechbar…

… Der Sohn eines ehemaligen Nachbarn in meinem Heimatort hatte vor vielen Jahren Selbstmord begangen, er kniete sich in unserem kleinen Bahnhof an das Gleis, der einfahrende Zug köpfte ihn. Ein Bekannter meiner Eltern war an jenem Abend im Stellwerk beschäftigt. Den Anblick des verstümmelten Toten konnte er bis an sein Lebensende nicht verarbeiten. Immer wieder sprach er die Leute im Dorf, auch völlig fremde, darauf an: „Wissen Sie eigentlich, wie klein jemand ist, wenn er keinen Kopf mehr hat?“…

… „Warum lässt man ihn denn nicht sterben, wenn er es will?“ Dastehen, ungerührt und tatenlos zusehen, wie jemand auf grausige Weise ums Leben kommt? Das widerspräche doch jeglicher Menschlichkeit! – Ich wünsche all jenen, die so oder ähnlich unter dem oben erwähnten Post kommentiert haben, dass sie nie den gewaltsamen Suizid eines Menschen mit eigenen Augen ansehen und mit den verheerenden Folgen für ihre Seelen durchs Leben gehen müssen. – Manchmal frage ich mich angesichts solcher und noch krasserer Kommentare, was die Personen, die so etwas in die Tasten hauen, nur dazu bewegt. Ein tiefer, ungeahnter Schmerz? Religiöse Gründe? Gedankengänge, die ich mit meinem eher schlicht gestrickten Gemüt nicht nachvollziehen kann? Empathielosigkeit? Mangelnde Intelligenz? Seelische Defizite? Oder der Wunsch nach Aufmerksamkeit, selbst wenn diese negativer Art sein soll? Und manchmal verzweifle ich schier an der Rohheit, Brutalität und Unmenschlichkeit, die mir seit Jahren schon immer unverhohlener aus dem WWW entgegengrinst…


21 Antworten zu “„Jeder soll das Recht haben,…”

  1. Ich waere sehr froh und gluecklich gewesen, wenn vor vielen Jahren jemand meinen Bruder gehindert haette, sich auf die Schienen der S-Bahn in Unterschleissheim zu legen!

  2. „Ich hasse diese Leute“, sagte in einer TV-Dokumentation die Frau eines Lokführers, deren Mann wegen eines Selbstmörders arbeitsunfähig geworden war, wodurch in der Folge die Ehe zerbrach.

    • Ja… Das kann ich sehr gut nachvollziehen… Dieses Gefühl dürfte auch den vielen Hinterbliebenen, Freund:Innen, Lehrer:Innen der Passagiere des Germanwings Flug 9525 geläufig sein. Was hätten all diese Leute dafür gegeben, wenn jemand den sich in einem Wahn befindenden Co-Piloten hätte aufhalten können, der um seinen Suizid durchzuführen das Flugzeug an einem Gipfel der Westalpen zerschellen ließ, und 150 völlig Unbeteiligte und an seinem Elend Unschuldige mit in den Tod riss…

  3. Jeder soll über sein Leben frei entscheiden dürfen – so lange seine Entscheidung nicht das Leben anderer Menschen beeinträchtigt oder sogar zerstört. Was für das Leben gilt, sollte auch für den Tod gelten.

  4. Generell bin ich dafür, dass jedeR entscheiden kann, wann er vom Leben genug hat. Doch andere unschuldige damit hineinziehen, nein, dass geht gar nicht. Wie findet mensch also eine sichere Möglichkeit sich aus dem Leben zu verabschieden? Es ist ja nicht so einfach. Wäre es eine Möglichkeit, dass man eine Stelle einrichtet, an der solchen Menschen fachlich geholfen wird? Depressionen können genau so unheilbar sein, wie Krebs und da soll es ja Möglichkeiten geben, wenn es denn gar nicht mehr geht.

    • Es müsste Notfall-Ambulanzen für Menschen mit seelischen Problemen, für Suizidgefährdete geben… Wenn man bis zu einem Jahr auf einen Termin zur Psychotherapie bzw. -analyse warten muss, dann ist das der seelischen Gesundung nicht gerade förderlich, ganz im Gegenteil… Wobei im täglichen Miteinander ein bisschen mehr Achtsamkeit sehr hilfreich wäre, und vielleicht sogar den einen oder anderen Kurzschluss-Suizid verhindern könnte… Und wenn jemand bei klarem Verstand, verantwortungsbewusst und mit Zustimmung seines Umfelds und mit triftigen Gründen aus dem Leben scheiden will, dann soll ihm das nicht verwehrt werden.

      • Wenn denn die Therapie bewilligt wird und nicht eine Anschlusstherapie ist und der Gutachter der Krankenkasse meint, der Patient würde zu viel Geld kosten! Im täglichen Miteinander wünschte ich mir mehr Fürsorge für einander – nicht gaffen, Anteilnahme und Mitgefühl. Aber wie oft verstecken Menschen ihre wahren Gefühle – bis sie nicht mehr können – um ja nicht aufzufallen und mitzuhalten. Es krankt an unserer Gesellschaft. Alles, was außerhalb der Norm ist, sei es krank, behindert (in jeder Hinsicht) ist ein potenzieller Hinderungsgrund für die angeblich GESUNDEN!

        • Das ist leider sehr wohl wahr: Es krankt an unserer Gesellschaft… Es gibt eigentlich sehr viel Anteilnahme und Fürsorge – bei Katastrophenfällen, wie das Geschehen nach den verheerenden Unwettern und Hochwassern der jüngsten Zeit zeigt. Aber im sogenannten Alltag, da schaut es leider häufig verdammt düster und regelrecht unmenschlich aus.

  5. Mich erinnert dein Artikel an den Schriftsteller Wolfgang Herrndorf. Er beschäftigte sich auch mit solchen Gedanken und führte einen Blog während seiner Krankheit. Es wurde nach seinem selbst herbeigeführten Tod als Buch herausgegeben – es ist unglaublich bewegend (Arbeit und Struktur)
    Den Blog gibts übrigens noch immer.

  6. Vielen Dank für den Text. Ich kann dir da nur beipflichten. Es ist leicht dahin gesagt, dass jeder das Recht hat, selbst über sein Leben zu entscheiden. Du hast sehr emphatisch aufgezeigt, dass hinter einer solchen Aussage mehr steckt als das Offensichtliche, dem jeder erst einmal sofort zustimmt.

This function has been disabled for Marthas Momente-Sammlung.