Marthas Momente-Sammlung

Glück ist die Summe schöner Momente

Schwere, und doch so inspirierende Lesekost…

… Weil ich einen ziemlich konservativen Geschmack habe, was Opern-Inszenierungen anbelangt, und Sir Peter Jonas vor allem während seiner Zeit als Intendant der Bayerischen Staatsoper München quasi als Wegbereiter moderner Aufbereitungen klassischer Werke galt. Aber der gebürtige Engländer hatte ein sehr bewegtes und auch bewegendes Leben. Und während meiner langen Jahre im Foyerrestaurant der Bayerischen Staatsoper hatte ich indirekt des Öfteren mit ihm zu tun. Bei der Lektüre empfand ich viel Bewunderung für diesen Menschen, der über vierzig Jahre lang ungemein tapfer gegen seine Krebserkrankung gekämpft hatte – und natürlich kamen beim Schmökern auch sehr viele Erinnerungen an die wohl schönste Zeit meines Lebens hoch…

… Sir Peter Jonas wurde 1946 in London geboren, seine Mutter war eine jamaikanische Auswanderin mit spanisch-libanesischen Wurzeln, sein Vater musste aufgrund seiner jüdischen Herkunft aus Deutschland fliehen. Jonas‘ Kindheit war schwierig. Zu seiner Mutter hatte er nie einen warmen, herzlichen Kontakt, sein Vater, angeblich für den Britischen Geheimdienst tätig, verhielt sich ungemein kaltherzig und abweisend – seine Kinder mussten ihn z. B. siezen. Im Alter von acht Jahren kam Peter auf die römisch-katholische Worth School in Sussex, und verbrachte dort traumatisierende Jahre – „Wir wurden im Grunde genommen von morgens bis abends verprügelt.“ Einzigen Halt und bedingungslose, tiefe Zuneigung in all der Zeit fand er in seiner fünf Jahre älteren Schwester Kathryn, die fünfundzwanzigjährig bei einem Autounfall tödlich verunglückte…

… Nach dem Studium ging er 1974 nach Chicago, und wurde dort zunächst Assistent des berühmten Dirigenten Georg Solti, und nach zwei Jahren künstlerischer Betriebsleiter des Chicago Symphony Orchestra. Im Alter von nur 28 Jahren erhielt er die Diagnose Hodgkin-Lymphon, eine ausgesprochen seltene und in der Regel nach kurzem schon tödliche Krebserkrankung. Damals prophezeite man ihm allerhöchstens ein weiteres Jahr Lebenszeit. Sir Peter Jonas kämpfte fünfundvierzig Jahre lang gegen den Krebs, bis er im Alter von 73 Jahren in München am Tisch in seinem Krankenzimmer sitzend an einem Herzstillstand verstarb…

… 1984 wurde der Brite zum Generaldirektor der English National Opera ernannt. In den folgenden neun Jahren verschaffte er dem zweiten Londoner Opernhaus im Coliseum großes internationales Ansehen. Am 1. September 1993 wurde Sir Peter Jonas Generalintendant der Bayerischen Staatsoper München, und hatte dieses Amt bis August 2006 inne. In dieser Zeit sorgte er durch teilweise sehr umstrittene Inszenierungen von Barockopern und Werken zeitgenössischer Komponisten für viel Aufsehen, aber auch für eine neue Zugänglichkeit. Die mittlerweile regelmäßig bei den Festspielen im Juli stattfindende Oper für Alle auf dem Max-Joseph-Platz vor dem stattlichen Opernhaus in Münchens Zentrum geht auf seine Initiative zurück…

… Man machte damals Sir Peter die erste Zeit als Generalintendant alles andere als leicht – wofür er allerdings auch selbst mit verantwortlich war. Seine Persönlichkeit – bestechender Charme, feiner Humor, geradliniges Auftreten, Offenheit, Begeisterungsfähigkeit, aber auch eisige Härte, schier übermenschlicher Ehrgeiz und überaus hohe Ansprüche an seine Mitarbeiter:Innen – polarisierte von Beginn an. Lange Zeit stand er vor allem mit den Bühnenarbeitern- und technikern auf Kriegsfuß – The Independent Volksrepublik of Bühnenhandwerker pflegte Jonas oftmals trocken-spöttisch zu sagen. Dass er jede/n der ca. 800 Arbeiter:Innen und Angestellten nach seinem Amtsantritt dazu verpflichten wollte, Englischkurse zu besuchen, ist kein Gerücht. Zum Glück kam er nach einer Weile wieder davon ab. Dass er einige seiner guten Freunde aus dem ENO in überaus gute Positionen der Intendanz beförderte, sorgte für großes Missfallen und Bedenken: „Der tauscht uns Einheimische allesamt gegen seine Tommys aus!“, das war ab Herbst 1993 ein stehender Spruch im Opernhaus. Nachdem er in einem hitzigen Wortgefecht mit den Hydraulikern – das ist unter den hinter der Bühne Beschäftigten eine ganz spezielle „Kaste“ 😉 – einen seiner störrischen Kontrahenten als „negatives Arschloch“ bezeichnet hatte, trat die gesamte Bühnenmannschaft etwa eine Stunde vor Beginn der Vorstellung in den Streik, man ließ den sogenannten Eisernen Vorhang herab, der die Bühne vom Zuschauerraum abriegelt, und versteckte den Schlüssel. Erst nachdem sich der Generalintendant schriftlich entschuldigt hatte, konnte die Oper des Abends wie geplant aufgeführt werden. – Ein Mitglied des Bayerischen Staatsorchesters, mit dem ich damals gut befreundet war, hatte Sir Peter einmal zusammen mit der Orchestermeisterin Barbara Burgdorf (die später seine Frau wurde) in Flagranti während eines leidenschaftlichen Tété a tété hinter einer Feuerschutztür ertappt. – Dass Jonas ein ausgesprochen großzügiger Gastgeber war, kam uns im Foyerrestaurant natürlich sehr zupass. Noch nie war die Zahl der prominenten Persönlichkeiten aus aller Welt in unserem Haus so hoch gewesen, mein absolutes Highlight war der Besuch von Michail Gorbatschow, ich durfte ihm damals, als er bei uns speiste, den Brotkorb reichen, und sein Tafelwasser austauschen. 😉 – Das sind nur einige von vielen, vielen Anekdoten und Begebenheiten, die ich in jenen auf ewig unvergessenen, spannenden, inspirierenden, traumhaften Jahren erleben durfte, und die bei der Lektüre von Sir Peter Jonas‘ Biographie wieder so wach und lebendig wurden, als hätten sie sich erst gestern ereignet…


7 Antworten zu “Schwere, und doch so inspirierende Lesekost…”

  1. Was du über diesen Herren schreibst, hört sich sehr, sehr interessant an – aber noch viel interessanter finde ich, was du so nach und nach über dein Berufsleben preisgibst!!
    Viele Grüsse
    Christa

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