… Vor einigen Tagen fiel mir auf Facebook ein Brief Albert Einsteins an seine Tochter Lieserl auf, der recht eifrig herumgereicht wurde. Ich begann mit der Lektüre, und schon nach wenigen Sätzen wurde ich misstrauisch. Der weltberühmte Physiker hat mich seit jeher fasziniert, und so hatte ich bislang bereits mehrere Biografien und Dokumentarfilme über ihn gelesen und gesehen. Was in diesem Brief geschrieben stand, mutete so gar nicht nach A. Einstein an, das war überhaupt nicht die Art und Weise, wie er sich sonst auszudrücken pflegte. Ich begann, im WWW zu stöbern, und stieß bereits nach kurzem auf einen FB-Post von mimikama, einer österreichischen Initiative, die sich mit der Entlarvung sogenannter Fake News befasst. Der kurze Artikel bestätigte mich in meinem Misstrauen, das Schreiben an Lieserl ist mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Fälschung – auch wenn es noch so schön abgefasst sein mag…
… Doch die Frage, ob Albert Einstein denn nun tatsächlich eine Tochter gehabt haben könnte, trieb mich weiter um. So begab ich mich in den unermesslichen Weiten des WorldWeb auf die Suche, und grub alsbald nicht nur einige interessante Artikel aus, in denen zur Sprache kam, dass der Erfinder der Realitivitätstheorie in der Tat eine voreheliche Tochter mit seiner ersten Frau Mileva Maric hatte, und dass dieses zu Beginn des Jahres 1902 geborene Kind etwa eineinhalb Jahre später völlig von der Bildfläche verschwand und nie wieder erwähnt wurde, auch im sich über Jahrzehnte hinziehenden, reichhaltigen Schriftwechsel zwischen A. Einstein und Frau Maric nicht. Solch rätselhafte Geschichten liebe ich!…
… Nicht lange danach geriet ich an eine Buchbesprechung. Es handelte sich um das im Jahr 1999 veröffentlichte Werk Einsteins Tochter der amerikanischen Schriftstellerin und Künstlerin Michele Zackheim. Ich machte mich sogleich im Archiv der Münchner Stadtbibliothek mit Erfolg kundig, und ließ mir die Dokumentation in die nächstgelegene Filiale schicken, wo ich sie am Freitag Nachmittag abholte…
… Schon nach wenigen Seiten wusste ich, dass ich auf das interessanteste Buch seit langem gestoßen war, ich konnte es gar nicht mehr beiseite legen, und las am zum Glück verregneten Wochenende bis tief in die Nächte. – In den ersten beiden Teilen beschreibt Mrs. Zackheim sehr detailliert, spannend und einfühlsam, wie die sehr intelligente Mileva Maric, Spross einer großen und wohlhabenden, serbischen Familie, deren Nachkommen immer noch nahe Novi Sad leben, und der etwa vier Jahre jüngere Albert Einstein sich in Zürich während ihres Studiums an der Eidgenössichen Polytechnischen Schule kennen und lieben lernten. Die Beiden begannen ein intimes Verhältnis miteinander – in Milevas Heimat galt so etwas als Todsünde. Im Jahr 1901 wurde die junge Frau schwanger, in den Augen ihrer Familie beging sie damit eine zweite Todsünde. Dennoch begab sie sich Mitte Januar auf den Gutshof der Maric‘ bei Titel nahe Novi Sad, und wurde dort am 27. Januar nach einer aufgrund ihrer angeborenen deformierten Hüfte grausam schweren und viele Stunden währenden Geburt von einer Tochter entbunden, die sie Lieserl nannte. Einige Wochen später kehrte sie ohne das Kind nach Bern zurück. Es ist davon auszugehen, dass sie die Kleine in der Obhut ihrer Familie beließ, die es als Findelkind ausgab, Adoptionen waren in Serbien nicht üblich. Warum sie ihre Tochter nicht mit sich nahm, ist etwas unklar, wahrscheinlich wollte Mileva die beginnende Karriere ihres Liebhabers nicht belasten. Im Sommer 1903 erkrankte Lieserl schwer an Scharlach. Frau Maric fuhr in die Heimat und kümmerte sich gut drei Wochen lang um Lieserl. Mitte/Ende September reiste sie von Novi Sad retour in die Schweiz. Nur wenig später heirateten Mileva und Albert. Und von da an wird die Tochter mit keinem Wort mehr erwähnt, weder in Gesprächen mit FreundenInnen und Verwandten, noch in Briefen. Es ist, als hätte Lieserl nie existiert. Erst als 1986 die Liebesbriefe zwischen Albert Einstein und seiner ersten Frau entdeckt wurden, kam ans Licht, dass der Nobelpreisträger und Mileva Maric Eltern einer Tochter gewesen waren…
… In den weiteren Teilen ihres Buchs erzählt Michele Zackheim von ihrer ca. fünf Jahre dauernden Suche nach der Geschichte und dem Verbleib von Lieserl. Sie schildert sehr lebhaft und eindringlich vom Misstrauen jener Menschen in Serbien, von denen sie sich klärende Informationen erhofft hatte, von den Schwierigkeiten ihrer Recherchen inmitten der Wirren des Balkankriegs, von den Traditionen, Sitten und Gebräuchen der Bevölkerung, veranschaulicht mit klaren, kurzen Beschreibungen eine Vielzahl an GesprächspartnernInnen, lässt sie beim Lesen vor dem inneren Auge lebendig werden. Sie erfuhr die Treue und den Zusammenhalt der Nachkommen der Maric, die eisern ihre Familiengeheimnisse Fremden gegenüber hüteten. Und sie erfuhr tiefe Freundschaft und das Bestreben, das Schicksal der Tochter Einsteins ans Licht zu bringen. Sie sichtete ungezählte Dokumente, Briefe, Akten, Gesprächsaufzeichnungen und befasste sich intensiv mit den Lebensläufen einiger Frauen, die vielleicht die verschollene Tochter der Einsteins hätten sein können, doch stets ohne den erhofften Erfolg…
… Erst nach ihrer Rückkehr in die Vereinigten Staaten geriet der Autorin die Lösung des Rätsels Lieserl in die Hände. In einem kleinen, vergilbten Büchlein des Schweizer Hirnforschers und Psychiater August Forel aus dem Jahr 1905, welches ihr während eines Gesprächs von einer liebenswerten, alten Verwandten der Maric‘ übergeben worden war, konzentrierte sich Mrs. Zackheim auf die von Mileva Maric unterstrichenen Passagen. Und dann fügten sich all die Puzzlesteine ihrer Recherchen zusammen: Lieserl Maric-Einstein, am 27. Januar 1901 geboren, war geistig behindert, und sie starb mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit am 15. September 1903 an Scharlach. Ihre sterblichen Überreste wurden bis dato nicht gefunden…