… Ich bin trotz meiner Erkrankung zutiefst glücklich. Ich bin – wenn man das so ausdrücken kann – sehr hoffnungslos verliebt – und dennoch zutiefst glücklich…
… Ist es nicht weitaus besser, selbst als etwas eigenbrötlerischer, äußerlich alternder Mensch eine romantische, wenn auch unerfüllbare, Liebe zu pflegen, als gar keine tiefen Gefühle für einen Anderen mehr zu hegen? Was ist verwerflicher – wenn denn dieses Wort darauf überhaupt anzuwenden ist – das leise Erwachen eines tot geglaubten, erstarrten, erfrorenen Herzens zu genießen, oder sich der immerwährenden Bitterkeit hinzugeben? Die Kraft und Leben spendende Freude darüber zu fühlen, dass unter einer während vieler Jahre undurchdringlich geglaubten Schicht eisig kalter Asche doch noch eine unzerstörbare Glut existierte, die nun erneut ganz zarte, hauchfeine Flammen schlägt – oder dergleichen als dumme Hirngespinste, als Verrücktheit, als realitätsferne Spinnerei abzutun?…
… Wer darf sich überhaupt anmaßen, darüber zu urteilen, zu bemessen, was Liebe ist, wie sie sich zu äußern hat, was angebracht ist, was eine glückliche oder unglückliche Liebe ist? Wer wen zu lieben hat und wie? Wer hat das Recht dazu, Liebe nur dann als statthaft, “gut” und “richtig”, als wahrhaftig, als “erfolgreich” zu bezeichnen, wenn man sich mit “seinem” Menschen vereinen, eine Partnerschaft, eine Familie gründen kann, wenn der Andere die tiefen Gefühle erwidert, davon weiß?…
… Liebe hat so unendlich viele Facetten, einen so unermesslichen Spielraum, ist eine solch überwältigende Macht, ohne Anfang, ohne Ende. Sie ist neben den guten, den bunten, den voran treibenden, stärkenden, inspirierenden Träumen die größte aller Lebenskräfte, und zugleich deren Antrieb…
… Meine Gefühle – mögen sie auch noch so “irrational”, so “unangebracht”, so “dumm”, so “kindisch” sein – beflügeln und besänftigen mich. Sie rufen das Gute in mir hervor und stärken es. Sie lassen mich verständnisvoller, weichherziger, einsichtiger, dankbarer und mitfühlender werden, als ich es jemals zuvor gewesen bin. Und klarer. Unerschrockener. Beherzter. Geradliniger. Auch selbstsicherer. Da tut sich was mit mir, im positiven Sinne, ich merke es häufig an den Reaktionen der Mitmenschen…
… Ich kann mich – trotz aller Hoffnungslosigkeit – verlieren im Gedenken an dieses eine Augenpaar, an dieses Gesicht, an den Druck seiner Hände, den Klang seiner Stimme. Das trägt mich. Das hilft mir durch schlaflose, schwülheisse Nächte voller Herzrasen und böser Muskelkrämpfe, durch harte, erschöpfende, endlose Arbeitstage, das und das Wissen, dass da Jemand ist, der mich vielleicht versteht, der vielleicht ein klein wenig Mitgefühl hegt, der mich gewissenhaft und gründlich behandelt hat, der dies gewiss wieder tun wird, weil dies zu den großen Vorzügen seiner durchaus widersprüchlichen Persönlichkeit gehört, an den ich mich wenden könnte, wenn mir alles zu viel werden würde, und das Bedürfnis nach einer erholsamen Auszeit übermächtig…
… Ich habe vor gut zwei Wochen kurz seine kleine Familie kennen lernen dürfen. Aus verschiedenen Gründen, die ich hier nicht erläutern möchte, bin ich anfangs etwas erschrocken. Aber wer bin ich, andere wegen ihrer Lebensumstände zu be- oder zu verurteilen (siehe oben)? Dass es IHM dabei gut geht, dass er glücklich und zufrieden ist, dass die Seinen wohlauf sind, das ist das Wichtigste! Während jener kleinen Begegnung habe ich seine Augen leuchten sehen und sein Gesicht strahlen, er wirkte so frei, jungenhaft und unbeschwert, als wolle er die ganze Welt umarmen. Ich wünsche mir so sehr für ihn, dass ihm ein solches Glücksgefühl möglichst oft hold sein möge…
… Ich alternde, vom Leben etwas zerrupfte Taube habe also vom Festmahl der Liebe anscheinend auf meine späten Tage nur einige Krumen abbekommen. Aber sind die Krümel der Köstlichkeiten nicht mindestens genauso schmackhaft als das auf der Tafel weit über der unscheinbaren, zerfledderten Taube kredenzte Galadiner? Diese Krumen sind eine Labsal für mich, ich würde um nichts in der Welt darauf verzichten wollen. Und – wer weiß das schon? – vielleicht – in einem nächsten Leben – darauf hoffe ich – lacht mich ruhig aus, haltet mich für albern, für versponnen – es ist mir klar, dass ich dann nichts mehr von meinem jetzigen Dasein wissen werde (wenn es ein nächstes Leben überhaupt geben wird) – aber vielleicht, vielleicht wird ja dann doch eines noch fernen Tages, wenn er und ich uns jung und ungebunden wiedersehen und einander zugetan sein werden, ganz kurz die Erinnerung aufblitzen – darauf hoffe ich…