Marthas Momente-Sammlung

Glück ist die Summe schöner Momente

Das Grauen…

… begann gestern gegen 18:00 Uhr. Ich war auf dem Weg in die Küche, wollte den Backofen anwerfen, um mir ein Hendl zu grillen. Sirenengeheul, das zunehmend näher kam, trieb mich auf den Balkon. Gleichermaßen fasziniert und erschrocken sah ich zu, wie eine riesige Phalanx an Polizei-Einsatzwägen und Zivilfahrzeugen der Kriminalpolizei, Krankenwägen, Feuerwehrzüge auf der Straße unter mir Richtung Norden vorbei donnerte. Das Gellen der Sirenen war schier atemberaubend, die Fenster der umliegenden Häuser spiegelten das irrlichternde Blitzen der Blaulichter wieder…

… Es war gegen dreiviertel Sieben, als ich in den Nachrichten des Bayerischen Fernsehens erstmals von der Schießerei im Olympia-Einkaufszentrum im Nordwesten Münchens erfuhr…

… Nur wenig später schien München in eine Art Schockstarre zu verfallen, still wurde es auf den Straßen ringsum, sehr still. Diese entsetzliche Ruhe wurde nur ab und an vom Lärmen weiterer Einsatzfahrzeuge unterbrochen. Kein Bus, keine Trambahn fuhren mehr. Die Behörden hatten den Sonderfall ausgerufen, es herrsche eine sogenannte Amoklage, man rate dringend dazu, öffentliche Plätze zu meiden, sich auf schnellstem Wege nach Hause zu begeben, dort zu bleiben und sich ruhig zu verhalten…

… Ich erschrak, als vor dem kleinen Supermärktchen am Eck ein Polizeiwagen mit eingeschaltetem Blaulicht stehen blieb und die Beamten schnellen Schrittes in den Laden gingen. „Bitte, nicht!“, dachte ich voll Entsetzen und Kummer, „Bitte, nicht!“ Atemlos lauschend starrte ich auf die Auslagen des „T.engelmännchens“. Nach einer Weile kamen die Polizisten zurück – nichts passiert – zum Glück! Mir wurde schwindlig, ich musste mich am Balkongeländer festhalten…

… Inzwischen hatten mehrere Internet-Freunde/innen mittels Safety Check auf FB angefragt, wie es mir ginge, ob ich in Sicherheit und unbeschadet sei. Ich antwortete, verfasste auch hier eine kurze Nachricht, dass ich mich wohlbehalten zuhause befinden würde, und setzte selber etliche Suchmeldungen ins WWW…

… Gegen zwanzig Uhr kreiste zum ersten Mal ein Polizeihubschrauber über meiner Gegend. Inzwischen war in den Medien ständig die Rede von bis zu drei Tätern, die auf der Flucht wären, und dass es am Marienplatz sowie am Stachus ebenfalls zu massiven Polizeieinsätzen aufgrund verdächtiger Meldungen und Situationen gekommen sei. Es wurde gemeldet, dass man den Hauptbahnhof evakuiert habe. Eine Kolonne von mindestens zwei Dutzend Rettungsfahrzeugen, Rot-Kreuz-Lastern und Notarztwägen brauste Richtung Westen an der nahen Kreuzung vorüber…

… Immer wieder rief die Polizei per Twitter und Facebook auf, Hass, Hetze, Gerüchte und Spekulationen tunlichst bleiben zu lassen. Ungefähr jede Stunde gab es ein aktuelles Update. Telefonnummern zu Organisationen, bei denen man Näheres über den Verbleib möglicherweise betroffener Angehöriger erfahren konnte, wurden online gestellt, unter dem Hashtag #offene tuer konnte man erfahren, wo man – zum großen Teil in Privatwohnungen – Schutz und Unterkunft finden konnte, falls man sich noch auf den Straßen und fern von zuhause befand…

… Nur wenige Menschen waren während des gestrigen Abends in meiner Nachbarschaft zu sehen. Vor der „Radaukneipe“ am Eck herrschte ungewohnte Stille – unter normalen Umständen hätte ich mich sehr darüber gefreut…

… Gegen ein Uhr nachts begann beinahe direkt über mir der Polizeihubschrauber erneut zu kreisen. An und ab schwoll das Dröhnen der Rotoren, wieder und immer wieder, bis in die frühen Morgenstunden. Als es hinter den geschlossenen Vorhängen meiner Behausung bereits hell wurde, verstummte endlich der verstörende Lärm, ich fiel in einen kurzen und sehr unruhigen Schlaf…

… Für die Opfer und ihre Angehörigen tut es mir so unendlich leid. Mein ganzes Mitgefühl gilt ihnen, sowie den Angehörigen jenes jungen Mannes, der für diese schreckliche Bluttat wohl verantwortlich ist, und sich selbst gerichtet hat. Eine Bitte an alle: Wenn ihr über die gestrigen Ereignisse hier in München diskutiert, bleibt sachlich und fair. Haltet euch an die bislang bekannten Fakten. Gebt euch keinen wilden Spekulationen, keinen Gerüchten, keiner Hetze und keinem Hass hin. Und hofft, dass in eurem Umfeld so etwas niemals geschehen möge. Auch wenn ich – dem Universum sei Dank! – nicht direkt in die Ereignisse verwickelt gewesen bin – das Entsetzen, den Schock, diese Fassungslosigkeit und auch diese während der ganzen langen Stunden latent vorhandene Angst werde ich nie wieder vergessen…

http://www.tz.de/muenchen/muenchen-schiesserei-oez-aktuell-olympia-einkaufszentrum-anschlag-zr-6603114.html

… Zum Verhalten der Medien während der vergangenen Nacht habe ich bei Sweetkoffie noch einen sehr guten Artikel gefunden:

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/anschlag-in-muenchen-wir-wollen-ja-nicht-spekulieren-14353716.html


26 Antworten zu “Das Grauen…”

  1. Besonders für den Hinweis Fair zu bleiben und sich nicht in Spekulationen zu ergehen, bin ich dir sehr dankbar. Was ich in den gängigen Medien gelesen habe, wäre gut beraten gewesen, wenn sie sich diese Idee zu eigen gemacht hätten. Alles Liebe Karin

    • Hab grad bei dir gelesen, dass du die Vermutung teilst, es habe sich in Wahrheit um einen rechtsextremen Anschlag gehandelt. So viel zum Thema Spekulationen.

      • Ich habe vom Pawlowschen Reflex der Rechten geschrieben, Grenzen dich zu schreien, so wie irgend etwas geschieht. Da steht kein Wort, dass ich einen rechtsextremistischen Hintergrund vermute. Von einer Vermutung habe ich im gesamten Text nichts geschrieben. Muss anstrengend sein, immer auf der Hut vor den Verfehlungen der anderen zu sein. Bei aller Anstrengung wäre ein wenig Sorgfalt nicht verkehrt.

        • Karin, du hast einen Beitrag von H. Borgerding geteilt, in dem er sich ungefähr dahingehend äußert, dass er dem nicht traut, was die Medien über den Münchner Amoklauf berichten, und einen rechtsextremen Hintergrund für möglich hält. Das war, wenn ich mich recht erinnere, in etwa vierundzwanzig Stunden nach der Bluttat vom OEZ. Darauf bezog sich meine Antwort auf deinen Kommentar…
          Sollte ich allerdings wieder einmal wutschnaubend auf mein vermeintlich in diesem Post vermutetes Lieblings-Rotes-Tuch „Verschwörungsgeschwurbel“ losgestürmt sein, dann verzeih‘ mir bitte. Ich liebe dich, und ich werde nach wie vor nicht locker lassen, an mir zu arbeiten.

  2. Ich setze bewusst kein „like“. Ich hoffe, dass die Menschen dem Appell folgen und mit Sachlichkeit argumentieren und nicht dem Medienhype der wüsten Spekulationen bis hin zu Täterzuordnungen verfallen.
    Schlimm genug, was tagtäglich um uns herum passiert!

    • Leider, leider scheinen alle Appelle nichts zu fruchten. Die Leichen der Ermordeten sind noch nicht einmal kalt, und schon schießen die wildesten Vermutungen und Verschwörungsverschwurbeleien ins Kraut…

  3. ich habe die Lage in München bis ca. 24.00 Uhr im Fernsehen verfolgt. Einfach nur unfassbar und schlimm. Dein Einsatz der Polizei ab life zu erleben ist schon was anderes ! Ich kann mir sehr gut vorstellen wie da die Angst in einem hochsteigt ! Wird sicherlich noch die nächsten Tage das Hauptgespräch in München bleiben !

  4. Du hast die Stimmung, die gestern hier in München herrschte, hervorragend beschrieben. Ich bin immer noch wie betäubt von den Ereignissen der vergangenen Nacht.
    Um 19:00 Uhr war ich gerade auf dem Heimweg mit der Tram 16, als die MVG ihren Betrieb eingestellt hat. Am Friedensengel hab ich mich zu Fuß auf den Heimweg gemacht, zum Glück fand ich sofort ein freies Taxi, das mich sicher nachhause gebracht hat.
    Nochmals danke für deine Nachfrage über fb, hat mir sehr gut getan zu wissen, dass sich jemand um mich Sorgen macht.
    Liebe Grüße
    Renate

    • Ich bin auch immer noch wie betäubt. Mir ist, als hätte ich einen Stein in meinen Eingeweiden liegen, mir ist schlecht, und immer wieder zum Heulen zumute…
      Sehr gerne! Ich habe diese Suchanfrage an all meine Lieben hier in München geschickt, und alle sind zum Glück unversehrt…
      Herzliche Grüße!

      • Auch von mir mein Mitgefühl für alle Betroffenen. Ich war sehr froh meinen Mann auf der Arbeit per Handy zu erreichen aber noch froher als er abends zu Hause war.
        Ich hatte vor zu bloggen, aber das war mir vergangenen. Ich bin froh dass ihr wohlbehalten seid.
        Vielleicht interessiert euch folgender Blogbeitrag :
        http://wp.me/p6uWye-5N

        • Danke für den Link… Ich kann gut nachvollziehen, wie groß deine Erleichterung und Freude gewesen ist, als du deinen Mann erreicht hast, und als er wieder zuhause angekommen war.

  5. Nach vielen Stunden vor dem Fernsehgerät kann ich das Gesehene immer noch nicht in die richtigen Worte fassen. Ich frage mich nur – in welcher Zeit leben wir? Was ist in die Menschen gefahren? Existenzen vernichten und das eigene Leben wegwerfen. Zählt denn gar nichts mehr?

    • Solche Gewalttaten hat es immer schon gegeben, nur sind wir vorher dank moderner Medien nicht so quasi „hautnah“ mit dabei gewesen… Aber natürlich häufen sich derartige Ereignisse seit einer Weile… Meiner Meinung nach liegt es daran, wie wir miteinander umgehen, welche Werte für uns wichtig sind, und welche wir vermitteln, an dem Stress, dem wir uns zunehmend aussetzen, um nur einige Dinge zu nennen.

  6. Es ist natürlich so: die Medien machen Erhebungen, Umfragen, wer wieviel wo was guckt und dann wissen sie, dass die Menschen das so wollen: die ganze Nacht gucken, was gelaufen ist ganz nah am Geschehen sein. Bei den Münchnern kann ich das in diesem Fall verstehen, aber es muss ja nicht jeder rund um die Uhr jede Einzelheit wiederkäuen.
    Wer das nicht so will, sollte nicht so viele Sondersendungen gucken. Ich kann das Wort ‚Brennpunkt im Anschluss an …‘ schon gar nicht mehr hören und schalte aus.

    Ich habe mich übrigens auch gefragt, wie den Eltern zumute sein muss …

    • Bei den Worten „Brennpunkt im Anschluß an… “ kommt mir inzwischen auch das kalte Grausen… Ich habe gestern gegen 20:00 Uhr den Fernseher ausgeschaltet, und mich nur mehr auf die Twitter-Meldungen der Polizei sowie die eigenen Eindrücke konzentriert…
      Eine Familie hat gestern drei ihrer Kinder verloren. Gar nicht auszudenken, wie es zur Zeit in diesen Menschen aussehen mag…

  7. Es muss dir ja wirklich vorgekommen sein, als ob da ein Fim abspielt – ein irrealer Film.
    Wir sind auch bei den Opfern und ihren Angehörigen, die so sinnlos ihr Leben lassen mussten.
    Schnurrer Engel und Teufel

    • Ja, das hat sich in der Tat so angefühlt, als wäre es irreal… Immer wieder ertappte ich mich bei dem Gedanken „Das kann jetzt doch gar nicht wahr sein!“…
      Für drei Familien aus dem Kosovo, die ihre ermordeten Kindern gerne in der Heimat beisetzen wollen, sich das aber nicht leisten können, veranstaltet das Bayerische Rote Kreuz eine Spendenaktion:
      https://www.brk-muenchen.de/aktuelles/spendenaktion-anlaesslich-des-amoklaufes-in-muenchen
      Wie mag es in den Seelen der Eltern des jungen Täters aussehen, die ja wohl nach allem, was man inzwischen ermittelt hat, vom Wahn ihres Sohnes nichts gewusst hatten…
      ♥liche Grüße!

  8. Ich freue mich, dass dir nichts passiert ist. Es ist natürlich etwas passiert und das muss erstmal verarbeitet werden. Es ist schlimm, wenn Menschen sterben müssen, weil Ärzte nicht helfen können. Aber diese sinnlose Tat in deiner Stadt ist besonders feige und grausam. (Und das, was manche Medien draus machen oder die ewigen Hasskommentarschreiber, ist es das auch.)
    Liebe Grüße

    • Auch wenn ich hundert Jahre alt werde, diese bangen Stunden des 22. 7. 2016, die sich bis tief in die Nacht hinein zogen, werde ich nie vergessen…
      Ich versuche oft, mich gedanklich und gefühlsmäßig in die Welt des jungen Amokläufers hinein zu versetzen – was muss in ihm vorgegangen sein, welches Elend, welcher Hass, welch wirre Gefühle ihn getrieben haben… Ich kann keinen Hass und keine Abscheu empfinden, nur grenzenloses Mitgefühl und tiefe Trauer…
      Herzliche Grüße!

  9. Schockstarre, das ist genau das richtige Wort. Ich saß weinend vor dem Fernseher, über 1300km von den mir so vertrauten Straßen entfernt und konnte es nicht fassen.
    Wie entsetzlich mag das für alle Münchner sein, fragte ich immer wieder. Jetzt weiß ich es.
    Einen tröstenden Gruß aus Nordjütland

    • Am Tag danach lag eine förmlich greifbare Wolke aus Beklommenheit, Fassungslosigkeit und Schrecken über der Stadt… Ich hatte einen kurzen Abstecher in die Innenstadt gemacht, und das, was ich in den Gesichtern und Augen der Passanten lesen konnte, hat mir oft das Wasser in die Augen getrieben… Auch ich habe viel geweint, nicht am Freitag Abend und in der Nacht, aber in den Tagen danach. Es war, als würden die Tränen das Entsetzen fort spülen – aber ein Rest ist immer noch da, wird auch so schnell nicht gehen…
      Herzliche Grüße – und willkommen hier! ♥

This function has been disabled for Marthas Momente-Sammlung.