Marthas Momente-Sammlung

Glück ist die Summe schöner Momente

Am Tag danach…

… Die drückende Schwüle unter dem bleiernen Himmel mischt sich mit beinahe greifbarer Beklommenheit, mit Entsetzen, so etwas wie Schockstarre, mit einer unnatürlichen Stille, die auf all den kleinen und großen Alltagsgeräuschen lastet…

… Ich steige in die nächste Trambahn und fahre Richtung Innenstadt, um mir Kompressionsstrümpfe zu besorgen, das rechte Bein knieabwärts und der Fuß sind immer noch stark geschwollen. Viele der Gesichter in der sauna-ähnlich aufgeheizten Tram sind blass, übernächtigt, todernst, die Blicke traurig…

… Wir gehen ungewohnt freundlich, rücksichtsvoll, liebevoll miteinander um. Das Lächeln fällt schwer. In den großen Läden der Innenstadt, in welchen sich an den Wochenenden stets die Menschenmassen drängen, herrscht beinah Leere. Bei jedem lautem Geräusch zucken die Passanten zusammen und blicken verschreckt um sich…

… Ich betrete einen großen Discounter, nicht, weil ich einkaufen möchte, nein, ich verspüre mit einem Male ein ganz starkes – irrationales? – Bedürfnis, mich an der schier unglaublichen Vielfalt der Waren satt zu sehen, die bunten Packungen zu bestaunen, reifes, pralles, saftiges Obst und Gemüse unter meinen tastenden Fingern zu fühlen…

… Ich versuche, mich zurück in den Alltag zu kämpfen, aber es ist, als würde ich mich durch eine zähe, mich lähmende Masse bewegen…

… Jetzt, da sich die Dämmerung anschickt, ihren sanften Mantel über die Stadt zu breiten, zieht so etwas wie ein tiefes, friedvolles Aufatmen durch die Gassen gleich der Losung „Wir haben das Schlimmste überstanden!“. Ich sehe aus dem Fenster und labe mich an den kleinen Alltäglichkeiten da draußen, den Menschen, die in den Straßencafés sitzen und einen Absacker genießen, der temperamentvollen Musik, die aus der benachbarten Wohnung dringt, und wie ein „Jetzt-erst-recht!“-Aufschrei klingt, sogar das Plappern und Lachen, das von der nahen „Radaukneipe“ hochschwingt, erfreut mich…


15 Antworten zu “Am Tag danach…”

  1. „Wir haben das Schlimmste überstanden!“
    Kann man das wirklich sagen? Vielleicht für den Moment an diesem Ort, doch schon im nächsten Augenblick kann irgendein Idiot an anderer Stelle das nächste Blutbad anrichten…

  2. Ich befürchte, es gibt nur noch ‚in diesem Moment, an diesem Ort‘ und keine Sicherheit mehr, irgendwo geschützt zu sein.

  3. Genau so war es heute: drückend schwül und gespenstisch ruhig. Wir hatten heute deutlich weniger Kunden als an anderen Samstagen. Manche erzählten von ihren Erinnerungen an 1972, die plötzlich wieder präsent sind. Das Beinahe-gewitter von vorhin brachte kaum Erleichterung und die Beklommenheit begleitet mich in die Nacht. Gaby

    • Ich war heute Nachmittag in einem Discounter in Nähe des Hauptbahnhofs. Ich glaube, außer mir befanden sich vielleicht ein knappes Dutzend weitere Menschen in dem riesigen Geschäft. Das war irgendwie gespenstisch…
      Und jedesmal, wenn ich ein Martinshorn höre, durchzuckt es mich spontan: „Bitte, nicht! Bitte nicht noch einmal!“…

  4. Es ist so schwer die richtigen Worte zu finden, deshalb schweige ich normalerweise nach solchen Taten.

    Ich wollte dir aber dennoch den Mut wünschen, bald das Glück wieder zuzulassen. Ich hoffe, dass du dir bald wieder was Gutes tun kannst, es genießen kannst und wieder erfährst, wie schön das Leben sein kann.
    Ich wünsche dir, dass du die Angst, die in deinem Kopf lauert, mit einem kräftigen Tritt aus Mut und Trotz so weit weg kicken kannst, dass sie dich nicht daran hindert, dass zu tun, was du verdient hast und worauf du ein Recht hast: glücklich zu leben.

    Durch deine Fotos weiß ich, dass du einen Blick für die wunderschönen Details dieses tollen Lebens hast. Ich bin mir sicher, du schaffst es, diese seltene Gabe zu behalten. Lass dich von ihr durch diese schwere Zeit tragen – in eine hoffentlich bessere Zukunft. Dafür, dass sie besser wird, sorgst du ja schon Tag für Tag.

    Ich hoffe meine Worte waren in dieser Situation nicht unangemessen, wenn doch, tut es mir leid.

    PS: Ich finde es absolut bewundernswert, dass du dem Hass keinerlei Raum gibst – weder in deinem Kopf noch auf deinem Blog.

    • Danke für deine lieben, aufmunternden und verständnisvollen Worte… Ich bin sicher, dass sich die Schönheiten dieser Welt Schrittchen für Schrittchen wieder in mein Leben stehlen werden – und dass ich dies auch zulassen, ja, freudig begrüßen werde…
      Was würde Hass nützen? Damit würde ich auch nicht das kleinste bisschen zum Besseren wenden, und zudem mir doch nur selbst schaden. Nicht nur Angst isst die Seele auf, sondern auch der Hass…

        • Das Schlimmste scheint vorbei zu sein – zumindest für den Moment – genau so muss man das sehen, denn sonst macht man sich das Leben zur Hölle…
          Es wird immer wieder zu solchen Bluttaten kommen, und in unserer leistungsorientierten und auf Erfolg getrimmten Gesellschaft meiner Meinung leider immer häufiger. Unsere größten Feinde sind weder die Islamisten, und im Grunde genommen sind es auch nicht die politisch rechts Orientierten, unsere größten Feinde sind der permanente Leistungsdruck, dem wir sogar häufig unsere Kinder unterziehen, und die zunehmende Ausgrenzung all jener, die schon als Kinder und Jugendliche nicht mehr Schritt halten können…

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