Marthas Momente-Sammlung

Glück ist die Summe schöner Momente

Yenidze – und die Geschichte eines „Bruchpiloten“…

… Als ich, gestärkt von einem opulenten Frühstück und ausgesprochen unternehmungslustig, am Sonntag Morgen nach der Lesung in Begleitung der lieben G. und eines weiteren Gastes der Studenten-WG, einem netten, jungen Mann aus Frankfurt, das Haus verließ, fiel mein erster Blick auf ein überaus malerisch anmutendes Bauwerk, das hinter dem nahen Bahndamm hochragte…

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… „Uih!“, rief ich begeistert aus, „Das ist aber eine tolle Moschee, die ihr hier in Dresden habt!“ – „Nein, nein,“, meinte Gunny, „das hier hat nix mit einer Moschee zu tun, das ist früher einmal eine Tabakfabrik gewesen, und jetzt sind Büros dort untergebracht, auf der Terrasse ein Restaurant und in der Kuppel finden kulturelle Veranstaltungen statt.“…

… Während wir Richtung Zwinger schlenderten, trieben Blasen gleich Erinnerungsfetzen in mein Bewusstsein, doch betört vom Zauber der historischen Altstadt Dresdens und seiner Prachtbauten, schenkte ich ihnen keine große Aufmerksamkeit…

… Erst auf der Heimfahrt, acht Stunden lang im Bus auf dem dunklen Band der Autobahn durch trübe, tief hängende Wolken und Schneeschauer dahin gleitend, kam mir Yenidze wieder in den Sinn. Und die dazu gehörige Geschichte. Und eine Person, die ich kannte, und die mit dieser wohl eng verbunden gewesen ist…

… Vor etlichen Jahren arbeitete ich in einem kleinen Wirtshaus nahe des Nymphenburger Schlosses. Zu unseren Mittagsgästen zählte damals ein recht agil wirkender alter Mann. Mit der Zeit pflegte er jedesmal, wenn wir ihn bedienten, damit zu prahlen, dass er der letzte noch lebende Pilot von Stalingrad sei. Seine schwerstkranke Frau würde im Hospiz der Barmherzigen Brüder gepflegt werden, er sei hierher gezogen, um sie täglich besuchen zu können. Er sei mittlerweile gut neunzig Jahre alt. Und wie zum Beweis öffnete er dann jedesmal seine Brieftasche, in welcher sich zwar kein Bildchen seiner Frau befand, aber zwei Aufnahmen von ihm, als schneidiger, junger Wehrmachtsoffizier, einmal als Brustbild sowie vor seinem in der Sonne glänzenden Sturzkampfbomber…

… Es dauerte nicht lange, und wir hatten ihm den Spitznamen „Bruchpilot“ verpasst. Bei aller Freundlichkeit und Zuvorkommenheit, wenn man über einen langen Zeitraum Tag für Tag die selben Sprüche zu hören bekommt, wird man ihrer überdrüssig. So sahen wir zu, dass wir unseren betagten und redseligen Gast recht flott abfertigten, um ja nicht wieder die Stalingrad-Piloten-G’schicht aufgetischt zu bekommen. Eines Tages jedoch verwickelte er einen Kollegen und mich in eine ausgedehntere Schilderung seiner Lebensumstände…

… Er erzählte von seinen Kinder- und Jugendtagen in Dresden. Von seinem Vater, der dort eine Zigarettenfabrik gegründet hatte. Der sich das schönste Fabrikgebäude hatte bauen lassen, was man sich nur vorstellen konnte! Der Architekt Martin Hammitzsch – später Hitler’s Schwager – entwarf nach Anregungen des Inhabers die sogenannte „Tabakmoschee“ mit der hoch ragenden, farbig verglasten Kuppel und dem als Minarett getarnten Schornstein. Doch den Einheimischen wäre dieser orientalisch anmutende Prachtbau, die Yenidze, benannt nach dem nordgriechischen Ort, von welchem die Tabakimporte stammten, viele Jahre lang ein Dorn im Auge gewesen. Im Jahre 1924 hätte Hugo Zietz sein Unternehmen dann an den Reemtsma-Konzern verkauft. Während des Dresdner Feuersturms ist das Anwesen stark beschädigt, in den Fünfzigern wieder aufgebaut worden…

… Er, Hans Zietz, sei Luftfahrt-Ingenieur gewesen, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hätten er und seine Frau sich in Norddeutschland nieder gelassen, für einen großen Konzern sei er viele Jahrzehnte lang als Berater und Entwicklungs-Ingieneur weltweit tätig gewesen…

… Ob die Erzählungen des alten Mannes wirklich der Wahrheit entsprachen? Zumindest der Name stimmte, denn er hatte uns ja fast tagtäglich seinen Ausweis unter die Nase gehalten. Und die Geschichte der Yenidze, die er uns sehr mitreissend und auch detailliert mitgeteilt hatte, ist genau so hier nachzulesen …

… Wie heißt es doch so schön: Man begegnet sich im Leben stets zweimal…


28 Antworten zu “Yenidze – und die Geschichte eines „Bruchpiloten“…”

    • Bis zur Wende ist in der Yenidze allerdings der VEB Tabakkontor untergebracht gewesen, der die Zigarettenfabriken der DDR mit Rohmaterial versorgte. Das Gebäude ist 1996 sehr sorgfältig restauriert worden, nun befinden sich Büroräume und ein Restaurant darin…

  1. Eine wunderschöne Erinnerung, die du da wiedergeben hast. Ich meine schon, dass der alte und etwas schrullige alte Mann die Wahrheit erzählt hat, denn mal ehrlich, wie kann man sich solche Sachen aus den Fingern saugen? Ich habe gerne bei dir gelesen. Lieber Gruß an dich, Mandy

    • Danke schön!
      Ich glaube auch, dass die Erzählungen des alten Mannes der Wahrheit entsprechen. Und das ist wundervoll, finde ich! Man lernt einen Menschen kennen – und darf Jahre später fest stellen, dass einen eben durch dessen Lebenserinnerungen der Hauch der Geschichte berührt hat…
      Herzliche Grüße!

  2. Wunderbare Geschichte! Es kann nicht schaden, den Alten manchmal etwas besser zuzuhören, sehr oft haben sie wirklich etwas zu sagen (ganz im Gegensatz zu den Nichtdenkenschnellrednern der heutigen Zeit) 🙂
    Lieben Gruss-moni

    • Das ist ein ungemein vielschichtiger und bunter Fundus an großen und kleinen Geschichten, den die Alten seit jeher auf Lager haben. 😉 Es sind die Seelenbücher ihres Lebens…
      *Lach!* 😆 Gut ausgedrückt! In meiner Kindheit pflegte man zu sagen: „Vor Inbetriebnahme des Mundwerks ist das Gehirn einzuschalten.“ 😉
      Herzliche Grüße!

    • Irgendwie hat mir mein Inneres Stimmchen auch ganz klar und deutlich gesagt, als ich jüngst über die Geschichte unseres „Bruchpiloten“ nachgedacht habe, dass diese bestimmt der Wahrheit entspricht… Wie faszinierend, wie seltsam man manchmal irgendwie mit dem Schicksal anderer Leute verwoben zu sein scheint – wenn auch nur sehr am Rande…
      Sehr gerne! 🙂
      Liebe Grüße!

  3. Sehr interessant. Ich mag solche orientalisch anmutenden Gebäude, auch wenn sie eigentlich nicht in die Gegend passen. Aber trotzdem.

    • Ich habe auch ein Faible für orientalisch angehauchte Baukunst. 😉 Und die Yenidze ist wegen ihrer ungewöhnlichen Architektur schon ein richtiger Blickfang. 😉

    • Ich muss gestehen, dass ich gar nicht drinnen gewesen bin, dazu fehlte einfach die Zeit. Aber ich werde das bei meinem nächsten Dresden-Besuch ganz sicher nachholen.

  4. Eine wahrhaft fantastische Geschichte, wenn Dein Buch noch mehr solcher Geschichten enthält, dann bin ich jetzt schon begeistert.
    Aber im Ernst, unser Gehirn ist ein wahres Wunderwerk, nach doch relativ langer Zeit, fällt einem plötzlich etwas ein, welches man mit gerade Erlebten in Zusammenhang bringt, nun den Namen hast Du oft genug gelesen, trotzdem ist es doch so, dass einem oft ein Name von einem Menschen nicht einfallt, den man doch eigentlich gut kennt, wem ist so etwas noch nie passiert, dass liegt nicht immer am Alter, auch jungen Menschen kann das passieren, mir jedenfalls schon.
    Dann plötzlich wie ein Blitz, fällt einem wieder alles ein, auch solche Sachen, wie Dir jetzt diese Geschichte.
    Das geht mir jetzt oft so, mir fallen Sachen ein, auch Geschichten, oft auch lustige, an die ich ewig nicht mehr gedacht habe oder überhaupt jemals drüber nachgedacht habe, liegt bestimmt daran, weil ich mehr Zeit und keinen Stress mehr habe.
    Liebe Grüße
    Gerti

    • Liebe Gerti, diese Geschichte ist nicht im Buch, nicht in diesem, gut möglich, dass ich sie eines Tages in einem neuen Erzählband veröffentlichen werde… 😉
      Mir geschieht es manchmal, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann, was ich vor zwei Minuten auf meine Einkaufsliste schreiben wollte – aber etwas, das sich vor vierzig und mehr Jahren zugetragen hat, steht mir klar und deutlich und in allen Einzelheiten vor dem Inneren Auge… Und Namen! Oh, Gott, ich habe ein erbärmlich schlechtes Namensgedächtnis! Dafür kann ich mir Gesichter außerordentlich gut merken, zumindest meistens…
      Herzliche Grüße!

  5. So lebt Geschichte wieder auf.
    Wunderbar, dass dir das wieder eingefallen ist.
    Das Haus sieht ja tatsächlich wie eine Moschee aus.
    Damals konnten sie sich sowas noch leisten. Alle Achtung.

    Danke für die wunderbare Geschichte

    • Ja, nicht wahr! Und so ganz unvermutet ist diese Geschichte wieder lebendig geworden!
      Als Hugo Zeitz Anfang des 20. Jahrhunderts seine Tabakfabrik gründete, durfte man im sogenannten Weichbild Dresdens, also in einer gewissen Entfernung zum barocken Ortskern, kein Fabrikgebäude errichten, das als solches zu erkennen gewesen wäre. So entstand dieser orientalisch angehauchte Prachtbau. 😉
      Sehr gerne!

        • Das ist zu Beginn des 20.ten Jahrhunderts in Dresden so geregelt gewesen, dass im sogenannten Weichkern der Stadt Fabrikgebäude nicht als solche erkennbar sein dürfen. Also musste man die Tabakfabrik möglichst geschickt kaschieren. 😉

  6. Yenidze….sieht wahrlich wie eine Moschee aus und mir persönlich gefällt diese Architektur ungemein gut.
    Wie immer, ist deine Geschichte ganz wundervoll geschrieben.
    Im Buch habe ich auch schon einige Seiten gelesen….sehr, sehr gut!!!

    *drückdich*

    • Ja, nicht wahr! Ich habe ein Faible für die orientalische Architektur, das wirkt bei aller romantischen Verspieltheit so strukturiert, luftig, gut durchdacht…
      Freut mich sehr, dass dir diese Geschichte und auch das Buch so gut gefallen! 😀
      *Lieb-zurück-drück*

  7. Die Tabakmoschee habe ich auch schon gesehen. Nach deiner wunderbaren Geschichte bekommt sie für mich erst eine Bedeutung.
    Der alte Herr hat ganz bestimmt die Wahrheit gesagt, so etwas kann man nicht erfinden. Ich höre gerne den Erzählungen älterer Menschen zu, auch wenn sie sich manchmal wiederholen 🙂

    • Irgendwie, irgendwann hatte ich mal etwas über Yendize gehört/gesehen/gelesen, es aber damals nicht mit unserem „Bruchpiloten“ in Verbindung gebracht. Der Groschen fiel erst dann, als ich dieses schöne und originelle Bauwerk leibhaftig zu Gesicht bekam. 😉

  8. Die Jenidze hat mich als Bauwerk auch sehr beeindruckt. In einer anderen Umgebung wäre sie noch schöner.
    Wir waren in Dresden auf der Suche nach dem Elternhaus meines Mannes und dem Krankenhaus, in dem er geboren wurde, kurz nach Kriegsende.
    Getauft wurde damals in einer kleinen Friedhofskapelle, sonst war alles noch Schutt und Asche.

    • Nun, sie steht halt heutzutage nahe einer viel befahrenen Bahnstrecke und umgeben von modernen Hotelkomplexen, so weit ich das sehen konnte…
      Das muss furchtbar gewesen sein, damals, nach dem Krieg, nach dem verheerenden Feuersturm! In einem der unteren Räume der Frauenkirche kann man nach wie vor den Gestank des Qualms riechen…

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