Marthas Momente-Sammlung

Glück ist die Summe schöner Momente

Atlantropa – eine kühne Vision

… Sie war das Lebenswerk des 1885 in Regensburg geborenen Architekten und Kulturphilosophen Hermann Sörgel. Seinem ab 1928 entwickelten und 1932 in einem Buch der Öffentlichkeit vorgestellten Konzept lag die Beobachtung zugrunde, dass beständig Wasser aus dem Atlantik und dem Schwarzen Meer in das Mittelmeer strömt, da dort mehr Wasser verdunstet als durch die Zuflüsse ausgeglichen werden kann. Durch gigantische Staudämme bei der Meerenge von Gibraltar, zwischen Sizilien und Nordafrika und dem Bosporus sollte der Zustrom zum einen verringert werden, um den Meeresspiegel abzusenken und dadurch Neuland zu gewinnen, zum anderen aus dem einfließenden Rest Strom gewonnen werden. Sörgel hatte sogar während der zwanziger Jahre bereits begonnen, zusammen mit dem Schweizer Architekten Bruno Siegwart den Staudamm Atlantropa bei Gibraltar zu planen. Er solle der Passage ungefähr 20 Kilometer vorgelagert sein, allein für das Fundament war eine Breite von 2500 Meter und eine Höhe von 300 Meter vorgesehen. Die Bauzeit hatte man mit zehn Jahren veranschlagt, in vier Schichten sollten je 200.000 Arbeiter eingesetzt werden. Da etliche Aufzeichnungen Sörgels verloren gegangen sind, bleibt unklar, wie man die logistischen Probleme zu bewältigen gedachte, z. B. die Baumaterialbeschaffung – allein der Zementbedarf wäre für den Weltmarkt eine kaum lösbare Aufgabe gewesen – und auch den Transport sowie die Unterbringung der Arbeitskräfte…

… Sörgel vertrat die geopolitisch gestützte Meinung, dass in absehbarer Zukunft drei Machtblöcke entstehen würden: Amerika, Europa und Asien. Afrika würde aufgrund der zivilisatorischen Rückständigkeit abgekoppelt und lediglich als Lieferant von Rohstoffen bedeutsam sein, es sei denn, Europa würde nachhaltige Bindungen mit dem Schwarzen Kontinent eingehen. Er erkannte auch, dass Kohle und Erdöl in absehbarer Zeit verknappen und dadurch stetig teurer werden würden. Als einen möglichen Ausweg propagierte er die Verwertung des riesigen Energiepotenzials der Wasserkraft im Mittelmeer. Zudem soll durch die teilweise Trockenlegung wertvolles Neuland gewonnen werden. Und im Endstadium sollte aus Europa, Afrika und dem Vorderen Orient der neue Kontinent Atlantropa entstehen. Dies würde außer dem materiellen Nutzen auch über Generationen hinweg die Schaffenskräfte positiv bündeln und dadurch neuerliche kriegerische Auseinandersetzungen in Europa vermeiden…

… Der Visionär plante zwei Absenkungsgebiete. Eine Landbrücke sollte Sizilien, Italien und Nordafrika – Tunesien – miteinander verbinden. Damit sollte unter anderem eine durchgehende Eisenbahnverbindung zwischen Berlin, Rom und Kapstadt möglich werden. Der Wasserspiegel hätte im westlichen Teil des Mittelmeeres um bis zu 100 Meter reduziert werden sollen, im östlichen Teil sogar um 200 Meter. Das Mittelmeer wäre um 20 % geschrumpft, man hätte 500.000 Quadratkilometer Neuland gewonnen (eine Fläche wie Frankreich und Belgien zusammen). Für Venedig, welches zukünftig 500 km vom Meer entfernt liegen würde, hatte Sörgel in seinen Ausführungen einen künstlichen See mit Staudamm vorgesehen, der die Lagune vor dem Austrocknen bewahren sollte (und gleichzeitig ein Ende der an Häufigkeit zunehmenden Überschwemmungen bedeutet hätte). Genua, nach Vollendung des Projekts 3 km abseits der Küste,  sollte einen völlig neue und futuristisch gestalteten Stadtteil samt höchst modernem Hafen vor der „Altstadt“ gelegen erhalten, mit einem lang gezogenen Park bis hin zu den neuen Ufern…

(Quelle: Wikipedia)

… Gut achtzig Jahre nach Sörgel’s visionären Ausführungen offenbaren sich die hauptsächlich ökologischen und geologischen Nachteile des Projekts Atlantropa: Wahrscheinlich würde sich ein derart kühner Eingriff negativ auf die Plattentektonik, die seismischen und vulkanischen Aktivitäten des Mittelmeergebietes auswirken. Auch eine Beeinflussung, ja, Umlenkung des Golfstromes wäre nicht auszuschließen, ebenso eine Veränderung des Klimas weltweit und ein Ansteigen des Wasserspiegels des Atlantiks um rund einen Meter. Müssig, sich vorzustellen, dass ein Bauwerk wie der Damm Atlantropa an der Meerenge von Gibraltar ein lockendes Ziel für Terroranschläge darstellen würde…

… Herman Sörgel, ein Pazifist durch und durch, zudem ein Mann von offenem und geradlinigem Charakter, der kaum ein Blatt vor den Mund zu nehmen pflegte, wenn es um seine politischen Ansichten ging, geriet kurz nach der Machtübernahme Adolf Hitlers ins Fadenkreuz der Gestapo. Zusammen mit seiner Frau, einer vermögenden Halbjüdin, die treu zu ihm hielt und seine Unternehmungen finanzierte, floh er aus München und hielt sich bis nach Kriegsende in einem kleinen, oberbayerischen Bauerndorf versteckt. Eine tiefe Freundschaft verband ihn mit dem amerikanischen Schriftsteller John Knittel (Via Mala), der dem Visionär sogar einen Roman widmete…

… Ende der Vierziger kehrte Herman Sörgel nach München zurück. Er gründete das Atlantropa-Institut und warb nach wie vor durch Vorträge und Veröffentlichungen für sein Projekt. Auf dem Fahrrad unterwegs zu einer Lesung an Weihnachten 1952 wurde er von einem Auto angefahren und schwer verletzt. Einige Tage später verstarb er im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder im Münchner Stadtteil Nymphenburg. Der Unfallverursacher hatte Fahrerflucht begangen, der Hergang des Unglücks ist nie aufgeklärt worden…


8 Antworten zu “Atlantropa – eine kühne Vision”

  1. Eine großer Idee. Darauf muss man erstmal kommen. Aber ich muss sagen, dass ich froh bin, dass es nicht umgesetzt werden konnte. Das hat doch ein was von „Gott-spielen“ an sich … Mal so eben die Erde umgestalten. Die Konsequenzen wären sicher haarsträubend gewesen …

    • @Sany: Vor etwa neunzig Jahren hat es ja so etwas wie Umweltforschung noch nicht gegeben. Daher konnte Sörgel um die ökologischen Konsequenzen seiner Idee auch gar nicht wissen. Seine Vision an sich ist atemberaubend. Mein Vater und ich sind hin und weg gewesen, als wir vor etlichen Jährchen zum ersten Mal davon gehört und gelesen hatten.
      Hermann Sörgel wird als besonnener und auch bescheidener Mensch geschildert, ich bin fest davon überzeugt, dass es seinem Interesse fern war, so eben mal „Gott“ zu spielen. All seine Gedanken waren darauf gerichtet, dass durch diesen Eingriff für die Menschen in Europa, Kleinasien und Afrika bessere und friedvollere Zeiten anbrechen würden.

  2. Ich weiß ja nicht, mir klingt diese Idee doch irgendwie reichlich versponnen, da mag ich gar nicht an die zum Beispiel ökologischen Auswirkungen denken. Ganz abgesehen davon, das es doch wirklich schade um das schöne Mittelmeer wäre.
    Und hat sich der Mann auch mal Gedanken darüber gemacht, was aus den zahllosen Landstrichen wird, für die ihre unmittelbare Küstenlage eine ernorm große wirtschaftliche Bedeutung hat und die dann auf einmal auf dem Trocknen liegen würden?
    Manche Visionen sind sicherlich ganz spannend zu lesen, tun aber besser daran, Visionen zu bleiben.

    • @Zimtapfel: Die ökologischen Auswirkungen wären vermutlich immens, von einem Klimawandel bis zum großen Artensterben im Mittelmeer wegen des angestiegenen Salzgehaltes, der dann so hoch wie beim Toten Meer gewesen wäre. Das Mittelmeer allerdings ist im Verlaufe der Erdgeschichte schon einige Male ausgetrocknet, das letzte Mal vor ca. 2 Mill. Jahren. Die umweltbedingten Konsequenzen konnte Sörgel noch nicht erfassen, da Anfang bis Mitte des letzten Jahrhunderts eine dementsprechende Forschung ja noch gar nicht existiert hatte. Die wirtschaftlichen Belange der ehemaligen Küstenstreifen und Häfen hatte er allerdings einschließlich nachvollziehbarer Lösungen bis ins letzte Detail durchdacht gehabt.
      Oh, mittlerweile ist man wieder dabei Sörgel’s Pläne aufzugreifen, diese Idee von Atlantropa ist offenbar nicht tot zu kriegen.

  3. Das klingt sehr interessant, wirklich auch erschreckend. Die Konsequenzen haben die Menschen nicht immer im Griff – auch wenn heute die Ökoogie ein größeres Thema ist.
    Vor der Öko-Phase hat bereits der Assuan-Staudamm gezeigt, wie schon ein einzelnes Bauwerk dieser Art ungeahnte Probleme auslöst: Das Hochwasser blieb weg, aber auch der fruchtbare Schlamm.

    • @theomix: Vielleicht liegt darin auch die Faszination dieser Vision – sie ist gleichzeitig interessant, und es ist auch spannend, sich in der Phantasie dieses Atlantropa auszumalen, allein die Vorstellung von der Bahnlinie von Berlin nach Kapstadt fesselt mich stets sehr, und auch erschreckend, wenn man sich die ökologischen Auswirkungen vor Augen führt. Dabei ist diese Idee ja mit dem besten Wissen und auch Gewissen entwickelt worden. Sörgel’s politische Voraussage von den drei wirtschaftlich, technisch und auch politisch die Welt bestimmenden Blöcken Asien, Amerika und Europa hat sich ja erfüllt.
      Es hätte Jahrhunderte gedauert, die gewonnenen Landmassen urbar zu machen, da es sich dabei ja so gut wie ausschließlich um unfruchtbare Salzmarschen gehandelt hätte. Sörgel’s Projekt ging ja auch noch viel weiter, er wollte inmitten Zentralafrikas drei große Binnenseen schaffen und damit die Sahara begrünen…
      Das WDR hat vor ein oder zwei Jahren eine sehr gut recherchierte Dokumentation über „Atlantropa“ geschaffen. Wenn es dich interessiert, dann schau ich mal nach dem Link.

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