Marthas Momente-Sammlung

Glück ist die Summe schöner Momente

Keck von der alten Eiche – Teil 2

… Als der Maienmond prall und von einer merkwürdig graugelben Schattierung im westlichen Dunstschleier untergegangen war, unternahm Vater Puck mit seinen beiden Nachkömmlingen die erste Kletterpartie hinauf in das weit gefächerte Geäst der alten Eiche. Oh, was für ein weiter Horizont! Keck vergass über das Schauen und Staunen beinahe, wie er nun seine kleinen, noch ungeübten Krallen zu setzen hatte, um an der stellenweise doch recht glatten, dunkelgrauen Rinde nicht abzugleiten. Bislang war ihm der Park als schier grenzenlos vorgekommen, doch jetzt reichte sein Blick weiter, viel weiter darüber hinaus. Da gab es jenseits wuchernder Büsche und prunkvoller Bäume, jenseits eines sanft geschwungenen Hügels, samtig grüner, von Wegen durchschnittenen Wiesen, auf denen träge Inselchen wilder Blumen trieben, noch mehr solch hoch aufragende steinerne Gebilde wie das Stadtpalais; oft genug saß er nach diesem Ausflug im Schatten der schützenden Hagebuttenhecke, gedankenverloren an einer Samenrispe kauend, und zerbrach sich den Kopf darüber, was diese Menschen dazu antreiben mochte, unaufhörlich hin und her zu eilen. Ob es dabei auch um Nüsse, Sprossen und Sämereien ging? – Zwischen den steinernen Kolossen zogen sich eintönig graue Pfade dahin, dies entdeckte er nur wenige Tage später bei seiner ersten, verstohlenen, ausgedehnten Tour, die er wild pochenden Herzens alleine unternahm, sie waren mal schmal, mal ungeheuer breit, und ganz, ganz weit entfernt, für seine Augen grade noch auszumachen, ragte wie ein hässlicher Strunk bar allen Geästs ein nadelspitzer Turm gen Himmel. Seltsame Behältnisse, buntfarben, dies konnten unmöglich Tiere sein, auch wenn sie irgendwie vierfüssig einher kamen, schoben und drängelten sich monoton brummend oder aufheulend, verschleiernden Dunst voller Gestank verbreitend, über diese öden Flächen. Manchmal hielten sie an und spieen eine Ladung jener Menschenwesen aus. – Wie ist deren Welt doch so fremd! Wie unergründlich, wie unermesslich voll von Geheimnissen muß die Schöpfung sein, wenn es eine eigene Welt für solche Kreaturen und eine für kleines Getier wie Eichhörnchen, Amseln, Kleiber und Meisen gibt! – Sehr, sehr erschöpft und mit wirrem Kopf kehrte er in den heimeligen Koben zurück. Später, später möchte ich darüber nachdenken…

… Der Vater und Lehrmeister Puck hatte einen alten, knorrigen Ast erreicht, der unterhalb des wundervoll grünenden, duftenden Schirmes aus Eichenlaub aus dem Stamm ragte und liess sich darauf nieder, behaglich grummelnd kuschelte er sein fülliges Bäuchlein in seine buschige Rute und hieß den Kleinen, es ihm nachzutun. „Was ich euch nun sage, meine Kinder, ist ganz, ganz wichtig und nie wieder dürft ihr dies vergessen: Wenn ihr nun bald so gewandt und sicher seid, daß ihr alleine umher streifen dürft,“ von Kecks heimlicher Eskapade hatte er keine Ahnung, „dann begebt euch nie, nie und nimmer höher als dieser Ast. Denn wenn ihr euch darüber hinaus wagt, droht euch größte Gefahr!“ – „Warum?“, wollte Keck fordernd wissen. „Weil ihr dann von unseren ärgsten Todfeinden, den Krähen entdeckt werden könntet. Sie sind sonst eine krakeelende, sich zankende und geschwätzige, tändelnde Brut, doch wenn es darum geht, leichte Beute zu machen, sind sie lautlos und blitzschnell, und sobald sie euch gepackt haben, gibt es kein Entrinnen mehr.“ – „Was sind Krähen?“ – „Große schwarze Vögel, viel, viel größer als Herr Pinto, und finster wie der Tod, ja, ich glaube fast, sie sind der Tod selbst, mein Sohn.“

Nachts, in der Geborgenheit des Nests, das Gesichtchen fest im lebenswarmen Fell seiner Schwester vergraben, sann Keck noch einmal über die letzte Bemerkung des Vaters nach. Sie gab ihm große Rätsel auf. Was meinte er mit Tod? Was ist das – oder wer ist das – Tod? Und warum hatte er bei Puck ein abgrundtiefes, urängstliches Erschauern gespürt, als er jenen Tod erwähnt hatte?

Aus der überschäumenden, und doch auch so zarten und schüchternden Frühlingszeit wurde die Üppigkeit und Lebensfülle eines verschwenderischen Sommers. Frühmorgens glitzerten die Tautropfen im Strahlenkranz der prunkvoll aus dem Horizont sich schälenden Sonne, tagsüber setzte sich die Patina der glühenden Hitze, der feine Staub, welcher von den Parkwegen hoch gewirbelt wurde, auf die glänzenden Gräser und das dichte, grüngoldene Blattwerk und machte es stumpf. Herr Pinto und seine Gemahlin Almira, Max, der Kleiber, und seine etwas dickliche, betuliche, schwatzhafte Gefährtin Elvira und das Blaumeisenpärchen verbrachten die unerträglich bleiernen Tage im schattigen Gezweig, die Flügel gelüftet, das Gefieder gespreizt, die Schnäbel leise hechelnd geöffnet, wenn die Abenddämmerung einsetzte, segelten sie in stillen Momenten hinab auf die Terrasse des Palais, um dort in der Vogeltränke ein kühlendes Bad zu nehmen. Keck und die Seinen verschliefen die grell sengenden Stunden im angenehm kühlen Grunde ihrer Höhle und kamen erst dann wieder zum Vorschein, wenn gleich einer vulgär mit loderndem Rot übergossenen Scheibe die Sonne sich anschickte, hinter der kahl zerklüfteten Shilouette des Häusermeeres zur Ruhe zu gehen. Nachts dräuten die Wolken der Sommergewitter auf und die pladdernden Vorhänge lauer Regenschauer wuschen die kleine, traute Welt im Park wieder rein.

 Erneut hub ein Morgen an und die ersten, die Schlafdecke aus Dunst durchschneidenden Bänder des Frühlichts und der jubilierende, weithin schallende Chor von Herrn Pinto und seinen Artgenossen brachten in Keck und Indra das Blut zum Rauschen. Übermütig tollend, sich neckend und lachend schossen sie den Stamm der Eiche hinauf und hinab, Haschen spielend, sie versuchten, einander in die Lauscher zu kneifen und die buschigen Ruten zu packen, hinauf und hinab ging es, und rund um den zerklüfteten, moosbewachsenen, uralten Leib herum, hinauf und hinab, voller Übermut, die verwinkelten Äste bis zur Spitze vor und wieder zurück, hier einen haken schlagend, da eine aberwitzige Kapriole, nun einen tollen Luftsprung, hach, welch ein Spass, für eine Lebensfreude! und hinauf und hinab ging es, und rundherum und wieder hinauf, und da war er, dieser wunderliche, blattlose Ast, der schräg empor ragte, wie ein mahnend erhobener Zeigefinger, und da war noch etwas gewesen, etwas, das Vater einmal gesagt hatte, vor nicht allzu langer Zeit, aber das Herz pochte so laut und ungestüm und das Leben pulsierte und sang wie eine Fanfare in den Adern – und weiter ging die wilde, lustige Jagd, hinauf und hinab, und rundherum, und wieder hinauf und mit einem Male waren sie ganz oben, und unter ihren kleinen, vibrierenden, pelzigen Körpern spannte sich weit dieses schützende Blattwerk des knorrigen Altvaters Eiche und über ihnen dieser endlose, so blaue Himmel, weiße Wolkenfedern darüber hingestreut, am Rande der große, heiße, flammende Punkt der Sonne…

… Und ein Rauschen von finsteren, verdüsternden Schwingen, ein triumphierendes, heiseres „Kark! Kark!“ und ein Schatten, der auf sie fiel, und dann ein reissender Griff und ein halb erstickter Schrei von Indra – und fort war sie, leblos in den krummen, verhornten, messerschaften Klauen eines nachtdunklen Riesenvogels baumelnd, Indra, die Schöne, die Unvergleichliche, mit ihrer liebenswerten, drolligen Eitelkeit, dem Körnchen Schalk und Übermut in den seelenvollen Augen, dem seidenweichen, schwarzen Fell, dem rautenförmigen, weißen Brustfleck…

Keck sass erstarrt da und all seine wagemutige Lebendigkeit und die frische Lebensfreude, der Überschwang seiner Neugierde waren in ihm erstorben. Seie Pfoten zitterten vor Anstrengung, sich an diesem verlorenen, höchsten Punkt des Baumes fest zu klammern, am liebsten hätte er sich fallen lassen in dieses bodenlose Nichts, verborgen vom wunderschönen, unberührt vom harten Schicksal leise wogenden und summenden Grün. So fand ihn seine Mutter, die all ihre Ängste überwindend auf ihrer langen Suche zu ihm gelangt war, und ein Blick in seine leeren, moorfarbenen Augen sagte alles. Mit eiserner Kraft unterdrückte sie selbstlos den schmerzlichen Aufschrei, den Gram über den Tod der Tochter, der ihr mit all seiner Gewalt schier das Herz zersprengte, behutsam geleitete sie den Sohn hinunter in den Bau und bettete ihn tröstend an ihre zuckende Brust.

 Nun hatte Keck also erfahren, was Tod bedeutet. Und es war ihm, als sei er niemals wieder fähig dazu, die Welt so unbeschwert zu sehen, wie er sie vor Indras grausigem Ende wahr genommen hatte. Wohl hüpfte er im Park umher und machte Männchen, putzte sich possierlich auf die Keulen setzend mit den Vorderpfötchen das Gesicht, ließ sich bewundern und die „Ah!“s und „Oh!“s der seltsamen Zweibeiner über sich ergehen, ihre ohrenbetäubende Art, sich zu artikulieren, und heimste bei diesen Gelegenheiten auch manch Leckerbissen ein, auch lernte er, mit behenden Zickzacksprüngen den groben Späßen ungebärdiger Kinder und vom Jagdeifer gepackter Schoßhunde zu entgehen, wohl mundete ihm die Überfülle an safttriefenden Beeren und duftenden Früchten, welche dieser beinahe unerträglich freigebige Sommer mit sich brachte, doch hatte sich in seinem tiefsten Inneren ein erstarrter Kern aus Freudlosigkeit eingenistet, was machte es für einen Sinn, die Welt zu erforschen und über sie nachzudenken, Spaß zu haben und ihre mannigfaltige Schönheit zu genießen, wenn unvermittelt der Tod herab stossen und jäh jeglichen Zauber zerstören konnte!

Lavenia war in großer Sorge um ihn und als die Bäume sich rostrot und ockerfarben wandelten, um sich dann in taumelnden Wirbeln ihres zierenden Blattwerks zu entledigen, als das Gras auf den Wiesen den spröden Haaren jener Alten zu gleichen begann, die sich jeden Nachmittag in blutleerer Monotonie bei den gruppenweis aufgestellten Bänken trafen, verließ sie zusammen mit ihrem Sohn eines Nachmittags die heimatliche Lichtung und trat die ermüdende Reise an quer durch den Park zu einer weitschichtigen Verwandten, einer Base, in deren übermütiger Gesellschaft sie einst durch das Astwerk eines längst gefällten Baumes getollt war.

Was war die Wiedersehensfreude unter einem schmutziggrau lähmenden Vorwinterhimmel groß! „Ach, Malvia! So hübsch bist du, und nicht eine Spur gealtert!“ – „Schmeichlerin. Du bist damals die Schönste weit und breit gewesen und das sieht man dir immer noch an. – Das ist dein Sohn, nicht wahr? So stattlich und wohlerzogen, das kann nur ein Sprössling von dir sein. – Wie heißt du, mein Kind?“ – „Keck von der alten Eiche.“ – „Kommt mit, meine Tochter Nyrea und ich haben gerade heut morgen besonders aromatische Bucheckern eingesammelt, es wäre uns eine große Freude, sie mit euch zu teilen.“ Nach wenigen Hüpfern erreichten die Drei eine geräumige Höhle im Stamme einer noch jugendlich glatten Buche. Als sie es sich in dem kuscheligen Nest gemütlich gemacht hatten, löste sich aus dem schummrigen Halbdunkel die Gestalt eines kleinen, rotbraunen Eichhörnchen-Mädchens, welches ungefähr in Kecks Alter sein mochte. Malvia lächelte ihm weise zu. „Das ist Nyrea, meine Tochter.“

Und er blickte auf in ein Paar samtig glänzender, fragender, moorfarbener Augen, den seinen gleich, und der gefrorene Kern in seinem Innern löste sich und seine Lebensfreude, sein Wagemut, seine Wissbegierde, seine Seelenstärke kehrten mit einem befreienden Luftholen zurück – und noch etwas wurde ihm zuteil: das Größte aller Geschenke, etwas noch Unbenennbares, Undeutbares, aber derart Machtvolles, daß es ihm die schmale Brust zu sprengen drohte. Nyrea, wie schön das klingt, dachte er, sie ist so entzückend, so fremd, und doch irgendwie auch sehr vertraut, wie eine unerforschte Welt für sich, was gäbe ich darum, sie kennen zu lernen, in ihrer Nähe zu bleiben, bis der frostklamme, erstarrende Winter und mit ihm der lange, lähmende Schlaf kommt und wieder vergeht – und danach ein weiterer Frühling und der Neubeginn allen Lebens…

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25 Antworten zu “Keck von der alten Eiche – Teil 2”

  1. herrliche geschichte.
    disney würde da glatt einen film draus machen…

    bin echt froh, dass du dir deine fantasy in diesem maße behalten hast.

  2. Freilich, warum net. Ich habe da kein Problem mit, ich weiß ja, daß ich durchaus nicht unfehlbar bin. Und wie gesagt, ich freue mich sogar ein wenig darauf, weil ich ja doch auch dazu lernen möchte.

  3. Nee, nee, kein Angst. Da wird jetzt keine Rezension draus. Das maße ich mir nicht an.
    Für meinen persönlichen Lesegeschmack ist die Erzählweise zu adjektivlastig. Das wars auch schon.
    Herzlichst
    Tonari

    • @tonari: Danke dir! Irgendwie hast du ja auch Recht. Die Geschichte hat ehrlich gesagt schon einige Jährchen auf dem Buckel und da machte ich grad so ne adjektivlastige Phase durch. Ich war in einen Möchtegern-Schriftsteller verliebt und wollte dem imponieren. 😉

  4. @Wortman: Neee, zum Glück nicht. Damals hab ich sehr gelitten, aber mittlerweile sag ich Gott sei Dank. Du kennst den Herrn aus diversen Beschreibungen von mir, es ist jener, der die Sprache tot quält und sich dann wundert, daß niemand seine Bücher kauft.

  5. @tonari: Okay, das mit der Nicht-Zielgruppe seh ich ein. Aber sollte es mich mal nach Japan ziehen, komme ich darauf zurück. Und selbstredend auf dich und Sushi. 😉

  6. 😆
    Immerhin hat sie inzwischen fast 600 Bücher verkauft. Und das ohne nennensnerte Werbung (außer über ihre Homepage).
    Viel wichtiger aber sind ihr die Erfahrungen, die sich um das Tagebuchschreiben in Japan ranken, ums Überarbeiten (Namen ändern etc.) nach der Rückkehr, Veröffentlichen und die Reaktionen darauf.

  7. ahja, der herr war es 😉

    wer hat sensibel auf meinungen reagiert, tonari? deine tochter? hat sie sich zu viel von möglichen negativen kritiken zu herzen genommen oder wurde da mehr schmutzwäsche als konstruktive kritik geübt?

    bei 600 büchern kann es ja nicht so schlecht sein/gewesen sein, oder? 🙂

  8. Nee, nee, das bleibt wohl ihr einmaliger Ausflug in die Welt des Schreibens. Aber daraus entstand ihre Idee, ich sölle über unsere Gastelternzeit auch bloggen und so mal den täglichen Tagebuchschreibstress erleben. Und dem sanften Druck habe ich mich gebeugt…
    Und ja, ich bin stolz, aber vor allem wegen anderer Dinge. Und sie hat das Jahr, das wirklich nicht immer einfach war, bis zum Schluss durchgehalten.

  9. @wortman
    Nix mit schmutzwäsche, aber sie leist immer auch zwischen den Zeilen und interpretiert ´ne Menge in vielleicht nicht so gemeinte Untertöne
    Und nein, es gab (bisher) keinen Verriss. Media-Mania hat nicht so ganz erkannt, dass das Buch niemals den Anspruch hatte, ein Reiseführer für Jedermann zu sein, sondern von einem Teenie für andere Teenies geschrieben wurde.

  10. das hab ich schon mitbekommen, dass frauen und dann noch im austausch, in japan eher den stellenwert einer sklavin haben… um so beachtlicher, dass sie das ganze jahr durchgehalten hat. respekt!

    nur weil man über seine erlebnisse schreibt, ist es ja nicht gleich ein reiseführer… typisch für verlage etc. die untertöne waren bestimmt so in neidischer art, oder?
    die wird man ja nie los… *g*

  11. @wortman
    Ich glaub, da bringst du was durcheinander *großeAugenmacht*
    Töchterlein ist nicht gegen eine andere Frau ausgetauscht worden *kicher*, sondern war als Austauschschülerin dort. Ist brav zur Schule gegangen und hat die Sprache gelernt und viel von der Kultur mitbekommen.
    Sklavinnen hat sie dort nicht entdeckt… *zwinker*

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