Marthas Momente-Sammlung

Glück ist die Summe schöner Momente

Die Geistesschule (7)

Der Zauber war weg. Das tröstliche Gefühl, endlich eine Heimstatt gefunden zu haben. Ich war wieder Schülerin des L… R… – und entfernte mich dennoch zusehends von jenen Menschen, denen ich mich einstmals mehr zugehörig empfunden hatte als meiner eigenen Familie. Ich konnte vor mir selber nicht mehr verhehlen, daß mein kritischer Verstand, meine Hellhörigkeit, mein Mißtrauen sich fortlaufend schärften, wacher wurden. Ich machte häufiger Beobachtungen, aufgrund derer mich erneut die Gedanken an einen Austritt versuchten. Ein Vortrag während eines sonntäglichen Tempeldienstes zum Beispiel, der in recht arroganter Manier verfasst worden war und sich von oben herab in etlichen Absätzen ironisch über die niederen Schülergrade ausgelassen hatte. Ich schlenderte anschließend mit Renata den Nymphenburger Kanal entlang und schimpfte wie ein Rohrspatz auf den stattlichen, sehr feurigen Dr. B…, welcher als Sprecher fungiert hatte: „Also, ich versteh‘ nicht, wie ein Mitglied der Ecclesia einen derartigen Text verfassen und dann auch noch öffentlich verlesen darf!“ – „Meine Liebe, der Dr. B… hat doch diesen Vortrag gar nicht geschrieben.“ Ich mußte sie wohl recht verständnislos angestarrt haben. „Nein, M…, die Themen eines jeweiligen Tempeldienstes werden vom Rat der Ältesten ausgesucht und bestimmt. Die Mitglieder unserer Zentrumsleitung lesen eigentlich nur vom Blatt ab. – Natürlich“, befleißigte sie sich, schnell hinzuzufügen, als sie meinen entsetzten Blick wahrnahm, „haben die sich vorher sehr intensiv spirituell mit diesem Material befasst. Schließlich hat die Zentrumsleitung, haben die oberen Grade den normalen Schülern gegenüber eine enorme Verantwortung.“

Während eines Treffens vor der großen Sommerpause wurde das Thema Organspende und Obduktion nach dem Todesfall angesprochen. Ich war seit jeher der Organspende aufgeschlossen und positiv gegenüber gestanden und seit etlichen Jahren regelmäßige Blutspenderin. Für mich ist – nach einem vielzitierten Ausspruch Thomas Alva Edisons‘ – der Körper das Transportmittel für meinen Geist. Nach meinem Ableben hat er ausgedient. Ein dementsprechender Ausweis befindet sich immer in meiner Brieftasche. Ich war wie vom Donner gerührt, als uns während der Gesprächsrunde von einem eigens angereisten Mitglied des Rates der Ältesten nahe gelegt wurde, eine Erklärung auszufüllen und bei uns zu führen, in welcher wir eine Entnahme von Organen verweigerten sowie darauf bestanden, daß nach unserem Dahinscheiden der Leichnam drei Tage und drei Nächte lang nicht berührt werden dürfe. Auch eine Obduktion nach einem ungeklärten Todesfall dürfe keinesfalls durchgeführt werden. Mir standen die Haare zu Berge. Ich nahm das Schriftstück entgegen mit der felsenfesten Absicht, es auf der Straße im nächsten Papierkorb zu entsorgen. Während des darauf folgenden, kleinen Imbisses wagte ich, einem Mitglied der Zentrumsleitung gegenüber das Thema Blutspende anzuschneiden: „Damit kann man doch auch Leben retten. Ich mach‘ das gerne. Mein Vater wäre mit Sicherheit schon längst tot, wenn kein Spenderblut zur Verfügung gestanden hätte.“ Die Dame der Zentrumsleitung maß mich von oben bis unten, ehe sie nicht unfreundlich, aber bestimmt entgegnete: „Hast du schon einmal daran gedacht, daß du mit dem was du tust, in das Karma fremder Menschen eingreifst? Außerdem verändert die Heilsbotschaft der Gnosis die Blutzusammensetzung eines Schülers. Das könnte auf einen Uneingeweihten negative Auswirkungen haben.“ Hoppala! Bei meinem letzten Spendertermin hätte die Ärztin mich ums Haar wieder nach Hause geschickt, weil der HB-Wert zu wünschen übrig gelassen hatte, aber ansonsten hatte man keine Anomalien feststellen können. „Die Blutveränderung betrifft ja auch die nicht messbaren elektromagnetischen Schwingungen. Das könnte für Außenstehende problematisch werden.“ Hm!

Es gibt Mitglieder, vor allem jene, die sich mit dem Erreichen des Bekennenden Schülertums zufrieden geben, ihre Aufgaben und Pflichten innerhalb eines Zentrums übernehmen, darin aufgehen und sich manchmal auch schier zerreiben, welche ausgesprochen wenig Kontakt mit dieser unserer realen Welt pflegen. Ein Fernseher ist selbstredend tabu, auch informative Radiosendungen, sowie die Tagespresse und Zeitschriften werden tunlichst gemieden, mit Ausnahme der alle zwei Monate erscheinenden Gazette der Geistesschule. Der PC, falls überhaupt vorhanden, wird lediglich dazu genutzt, Liedertexte zu verfassen, in der Hoffnung, daß diese dem Rat der Ältesten genehm sind und irgendwann veröffentlicht werden, sich an Tempelvorträgen zu versuchen und sich selbstredend eifrig in die erbauliche Literatur des L…R… zu vertiefen. Eines jener realitätsfernen Pflänzchen war eine Dame gesetzten Alters, ich will sie hier mal Marie nennen. Sie und Renata waren seit zig Jahren Freundinnen. Ein oder zweimal pro Woche trafen wir uns bei Renata, die sehr gastfreundlich war und uns ausgesprochen liebevoll bekochte, nach sorgsam zelebriertem Essen wurden die Spielkarten hervor geholt und wir vertieften uns stundenlang in ungezählte Partien Romme. Darin bin ich sehr gut. (Ich habe eine harte und lehrreiche Schule hinter mir. Im Foyerrestaurant der Bayerischen Staatsoper pflegten wir stets unser Mahl herunter zu schlingen, nur damit wir möglichst viel Zeit der Mittagspause zum Zocken übrig hatten.) Es dauerte nicht lange und ich durfte die schockierende Beobachtung machen, daß Marie und Renata regelmäßig zu schummeln begannen und auch die Regeln nach ihrem eigenen Gusto auszulegen pflegten, sobald sie gewahr wurden, daß wieder einmal eine meiner Gewinnersträhnen drohte. Es ist ja an sich eine Kleinigkeit, aber nach einer Weile begann es mich gewaltig zu wurmen. Die Beiden bezeichneten sich als meine Freundinnen. Man besch… eine Freundin nicht beim Kartenspielen! Erst recht nicht, wenn man drei Viertel seines Lebens in einer sogenannten Geistesschule verbracht hatte. Da sollte man über so etwas wohl erhaben sein!

Als ich während eines Diskussionsabends, in dessen Verlauf ein Abschnitt aus dem Tao te king vorgelesen, anschließend die geistig erleuchtende Erklärung des Großmeisters J. v. R., und dann eine gute Stunde darüber entweder geschwiegen oder debattiert wurde, eine leicht ironische Bemerkung zur Person unserer Bundeskanzlerin wagte, wurde ich zurecht gewiesen, daß diese Herrschaften, welche die Geschicke unseres Volkes mehr oder weniger gut leiten, von der allumfassenden Geisteskraft dazu auserwählt worden wären. Und auch mit dementsprechenden, weitreichenden Gaben der Seele und des Verstandes ausgestattet worden seien. Da mußte ich mir schon einen gewaltigen Knoten in die Zunge machen, um nicht scharf zu kontern!

Der Sommer neigte sich und es häuften sich die Andeutungen Renatas, ich möge mich doch bitte wieder einmal auf einer Konferenz blicken lassen. Dies wäre doch schließlich meine Pflicht, sollte ich weiterhin daran interessiert sein, den nächst höheren Schülergrad anzustreben. Ich hatte ihr bereits unzählige Male erklärt, daß ich mich mit ca. 500 Euro Arbeitslosengeld durchschlagen müsse, alle meine Reserven längst aufgebraucht wären, mein Schuldenberg nie geahnte Höhen anstrebe und ich bereits meine wenigen guten Freunde mehrmals angepumpt hätte, um mich wenigstens halbwegs über Wasser halten zu können. Die Wahrheit war – es zog mich nicht mehr in dieses idyllische Schwarzwald-Städtchen. Halbherzig schrieb ich einen Brief an die Intendanz für Süddeutschland und bekam zur Antwort, daß man mir mit den Konferenzgebühren für einen gewissen Zeitraum ein bißchen entgegen kommen würde, wenn ich mich bereit erklären würde, während der zwei Tage dort im sogenannten Stab zu arbeiten. Stab bedeutet: Um sechs Uhr morgens aufstehen, Frühstück, Mittagessen, Abendessen für ca. 500 Personen zubereiten, Putzen, Waschen, Schrubben, Geschirrspülen. Während einer Konferenz werden sämtliche anfallende Arbeiten von Schülern/innen erledigt. Man rechne kurz nach: 40 € x 500 x 2, denn monatlich finden zwei dieser Treffen statt… Das weitläufige Terrain ist, meines Wissens, eine Schenkung gewesen, die Gebäude, der Tempel, der Park wurden zum Großteil ebenfalls von Schülern errichtet, während sogenannter Arbeitsdienste, die sich über Wochen erstrecken können… Ihr fragt euch jetzt sicherlich auch: Wohin fließt das ganze schöne Geld? Ich würde viel darum geben, wenn ich die Antwort wüßte. – So schob ich denn meine Anmeldung für eine Konferenz immer wieder hinaus. Zudem war ich seit Anfang August Aushilfsbedienung in einer traditionsreichen Gaststätte im Isartal und es sah gut aus, daß sich daraus etwas Festes entwickeln könnte. Ich durfte jetzt auf gar keinem Fall ein ganzes Wochenende aussetzen, allein beim Gedanken daran sah ich meine sorgsam gehegten Felle davon schwimmen!

Um diese Zeit begriff ich nach einer Vielzahl Unterhaltungen und Diskussionen, daß für Renata lediglich drei Themen Relevanz hatten: Geld, Sex und Männer. Erschüttert wurde mir klar, wie oberflächlich und auch dumm sie an sich war. Trotz Zugehörigkeit zur Ecclesia, trotz über vierzig Jahren Schülertums, trotz höherer Bewußtseinsschule. An einem Abend zählte sie mir auf, mit wie vielen Männern im Münchner Zentrum, ach, im L… R… überhaupt, sie bereits geschlafen hatte. Als ich heim radelte, vermeinte ich, auf meinem Gaumen den Geschmack von Erbrochenem, Verdorbenem zu fühlen. Seit einigen Monaten kam regelmäßig einmal pro Woche ein etwas seltsamer Mann zu ihr. Sie spielte recht gut Klavier und der Typ, Klaus, sang begeistert altdeutsches Liedgut. Er war gut fünfzehn Jahre jünger als Renata, ein ehemaliger Architekt, seit zwölf Jahren ohne feste Anstellung, genauso lang befand er sich bereits in psychotherapeutischer Behandlung. Seine Frau war alkoholkrank. Beide hatten ein noch nicht abgezahltes Haus, jede Menge Schulden und eine turbulente, ungeklärte Beziehung an der Backe. Als der Herbst unmerklich in einen viel zu lauen Winter überging, erzählte mir Renata, daß sie und Klaus eine sexuelle Beziehung begonnen hätten. Ich war entsetzt. Für jede Frau ihres Alters mit einer Spur Charakter und Anstand wäre es eine Selbstverständlichkeit, angesichts dieser Situation die Beine geschlossen zu halten. Geistige Reife dank L… R…? Erkenntnis dank L… R…? Erleuchtung und Weisheit dank L… R…? Fehlanzeige!

Ich war mit meinem guten Schriftstellerfreund Johannes zum Kaffeetrinken verabredet. Es war Ende November. Ich war viel zu früh und verzog mich, um mir die Wartezeit angenehm zu gestalten, in ein nahe gelegenes Internet-Cafe. Und fing unter L… R… zu stöbern an. Es dauerte nur wenige Minuten und ich stieß auf das sogenannte Dossier No. 4. Gefesselt begann ich zu lesen und konnte meine Blicke nicht mehr abwenden. Ich vergaß die Zeit und die Verabredung. Was in diesem 174 Seiten zählenden Schriftstück offen gelegt wurde, brachte für mich das Fass zum Überlaufen. Endgültig. Was mich am meisten schmerzte, waren die Bemerkungen J. v. R. in Bezug auf Homosexuelle und Krebskranke. Dergestalte „Mißbildungen“ würden bei jenen Menschen auftreten, deren Charakter und Lebenswandel nicht allein in diesem, sondern in mehreren vorher gegangenen Inkarnationen sehr zu wünschen übrig gelassen hätten. – Mein Vater hatte zwölf Jahre lang an Prostatakrebs gelitten, er war ein hingebungsvoller und leidenschaftlicher Lehrer gewesen, der Tausende von Kinder unterrichtet hatte, er war stets stolz darauf gewesen, daß nicht ein einziges davon auf die schiefe Bahn geraten war. Er hatte einen ungeheuer vielschichtigen und weitblickenden Geist sein Eigen genannt. Er war sanftmütig gewesen und über die Maßen großzügig. – Mein bester Freund Thomas ist homosexuell, er hat bereits mehr als einmal nicht nur sein Geld und Gut dafür eingesetzt, um mir aus einer Notlage zu helfen. Es gibt heutzutage nur mehr sehr wenige Menschen, die dermaßen loyal und fürsorglich sind… – Der Hohn der Geschichte: J. v. R. erlag selbst einem Krebsleiden.

Ich wußte nun definitiv, daß meine Tage bei der Geistesschule gezählt waren. Doch ich wollte diesmal sicher gehen. Ich ließ eine Woche verstreichen. Dann setzte ich mich an einen Computer und las erneut das Dossier No. 4. Sehr sorgfältig formulierte ich mein Austrittsschreiben. Ich empfand jeden Buchstaben als Schritt in die Freiheit. Auf dem Weg zum Briefkasten weitete sich mein Herz. Dann machte ich mich auf den Weg in die Arbeit. Als ich den stufenreichen Pfad ins Isartal hinab schritt, sang es in mir: Ich bin frei, ich bin frei! Ich bin endlich wieder ein Freigeist! Ich bin ab jetzt eine Freidenkerin!


6 Antworten zu “Die Geistesschule (7)”

    • Jaaa, nur manchmal läßt man sich halt einlullen. – Ich denke nicht, daß ich über die Maßen intelligent bin. Ich bin allerdings auch nicht der Dümmsten eine. Und habe – das bringt langes Alleinsein in einer Großstadt mit sich – doch einen wachen Verstand. Die Menschen solcher Geistesschulen – bzw. Sekten – jedoch verstehen sich, zumindest anfangs, ausgesprochen gut darauf, eine gewisse menschliche Sehnsucht anzusprechen, wach zu rufen. Was mir so lange die Augen verschlossen hatte, war, daß ich in spiritueller sowie intellektueller Hinsicht auch jede Menge Gutes aus etlichen Zusammenkünften oder Vorträgen schöpfen konnte. Ich werde nie das Symposium über Mozart’s „Zauberflöte“ vergessen. Es war ein wahrer Hochgenuß in jeglicher Hinsicht! Oder einen Vortrag über Dante’s Inferno. Oder über Al Andalus. Mit diesen „Highlights“ wird man verführt. Und mit dem Vorgaukeln einer Sonderstellung. – Es war nicht nur schlecht. Ich habe viel daraus gelernt. Und mache seitdem um jede spirituelle, religiöse, was-auch-immer Vereinigung einen mächtig großen Bogen.

  1. Ja, schon klar. Ich wollte nur darauf hingewiesen haben, dass mein oller Lehrer (und den habe ich sehr verehrt!) wohl Recht hatte: Sie sind ja das beste Beispiel! Selbst in der eingelulltesten Situation kann eigenständiges Denken ausgelöst werden, und dann kann man gar nicht wieder aufhören. Und dann tun sich Welten auf ….

    Gelulltwerden hat übrigens auch gar nicht soviel mit Intelligenz zu tun. Eher mit Psychologie, aber Details dazu diskutiere ich nicht öffentlich.

  2. Ein krönender Abschluß der L.R.-Geschichte und wie WWUL es schon sagte: Der Name „Freidenkerin“ bekommt eine ganz neue Dimension.

    Lang hatte es gedauert, doch letztendlich wurdest du wach. Das ist die Hauptsache. Dieses Dossier tat noch den Rest, aber du hast das wahre Licht der Erkenntnis genossen und seitdem denkst du „frei“.
    Was will frau mehr? 🙂

    Liebe Freidenkerin, vielen Dank für diesen überaus interessanten, wie auch warnenden 7teiligen Beitrag. Er dürfte so manch andere zum Nachdenken anregen.

  3. Gerade nochmal die Kurve gekriegt … puh. Und ich schließe mich an: freidenkerin, der Name, hat jetzt auch für mich einen „Sinn“. Bewundernde Grüße Ellen

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